Die Roten am Land

In den 1920er Jahren war Herr L. einer der über 20 Dienstboten, die alltäglich in die „Botenkammer" von Schloß Kammer zum Essen kamen. Unter den Dienstboten waren nur vier bis fünf Frauen oder Mädchen. Dazu kamen noch vier bis fünf ständig im Sägewerk beschäftigte Arbeiter. Im Gegensatz zu den in den bäuerlichen Haushalt voll eingebundenen Dienstboten verdingten diese sich als Taglöhner. Im Hause lebten auch noch die Kinder der Bauersleute und einige Ziehkinder. In der Hierarchie der Dienstboten war Herr L. mit 14 Jahren noch ganz unten. Doch er stieg allmählich auf. Nach einem Jahr als Hüterbub auf der Alm sollte er das Mähen mit der Sense lernen. Nach nicht allzu langer Zeit mußte er jedoch wieder auf die Alm, da unter dem Vieh die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen war und seine Arbeitskraft dort dringend benötigt wurde. Auf Schloß Kammer diente auch ein Knecht aus Kaprun. 1926 nahm er Herrn L. und einen anderen Dienstboten mit zu einem Bauern nach Kaprun. Damit war nach sechs Jahren der erste Dienst auf Schloß Kammer vorbei. Der zweite Aufenthalt auf Schloß Kammer fiel kürzer aus als der erste. Am 2. Februar 1931, zu Lichtmeß, dem üblichen Datum des Dienstbotenwechsels, trat Herr L. erneut seinen Dienst auf Schloß Kammer an . Ein Streit war der Grund für das Verlassen des Hofes bereits ein halbes Jahr später. Dieser entzündete sich am Essen. Dazu die Vorgeschichte: Bevor im Frühjahr fast alles Vieh auf die Alm getrieben wurde, sammelte man noch einige Milch in Behältern zum späteren Verzehr. In einem für diesen Zweck neu angeschafften Faß entwickelte die Milch jedoch einen unangenehm bitteren Geschmack. Die Dienstboten „meckerten" darüber, als sie diese Milch vorgesetzt bekamen. Ein Knecht protestierte und stellte deshalb die Schüssel öfters in die Küche zurück; er gab es aber dann auf, weil ihn die anderen Dienstboten immer ,,hängen ließen". Da meinte jedoch Herr L. - jetzt an dritter Stelle in der Knechthierarchie: ,,I redt schoa". Als einer der Dienstboten die Schüssel wieder zurückwies, wurden sie vom Bauern zur Rede gestellt. Jetzt wollte sich ein im Sägewerk als Taglöhner beschäftigter Arbeiter melden. Doch der Bauer entzog ihm sogleich das Wort und entließ ihn mit dem Kommentar: „Moagst glei gehn. Du bist eh glei (nur) Taglöhner ... Du hoast nix z'redn." Dann kam die Reihe an Herrn L. Ihm erging es wie seinem Vorredner: ,,Moagst eh gehn", meinte der Bauer auch zu ihm. Herr L. wartete am nächsten Tag den Zeitpunkt ab, da der Bauer den anderen Dienstboten ihre Arbeitsaufträge erteilt hatte und sie bereits an ihre Arbeit gegangen waren. Man schickte ihn vor die Haustür. Der Bauer öffnete 76 im ersten Stock darüber das Fenster und rief hinunter: ,,Hias, was is?" ,,Ja, gehn möcht i", antwortete Herr L. Obwohl ihm der Bauer anbot, jetzt doch wieder bleiben zu können, nahm der Knecht ihn beim Wort: ,,Woas gsoagt is, is gsoagt", und Herr L. verließ Schloß Kammer das zweite Mal. Das war im Sommer 1931. ,,Dös woar a letze (schwere) Zeit, woan oana außi is bei da Tir, san zehn oandri eina ." Matthias L. selbst habe in den 1930er Jahren bei Bauern als Melker neben anderen Dienstboten im Stall oder in der Scheune geschlafen, sagt er. In dieser Zeit verschlechterten sich die Verhältnisse auch in der Landwirtschaft, sodaß Herrn L. sein letztlich konsequentes Handeln nicht leicht gefallen sein dürfte. Matthias L. kehrte später als Knecht wieder nach Schloß Kammer zurück und diente für weitere neun Jahre als Melker. Er meint, er kenne dort jedes Stück Boden genau. Wenn Herr L. heute Besuch von auswärts bekommt, geht er gerne mit diesem nach Schloß Kammer. Für ihn stellt dieser Ort in seinem Leben als Dienstbote zugleich ein Stück Heimat dar. Im Gespräch mit dem ehemaligen Knecht wollte ich jenen Elementen der bäuerlichen Gesellschaft nachgehen, die eine Solidarisierung unter den Dienstboten verhinderten. Denn bei der oft großen Anzahl von Dienstboten in einem Haus stellt sich für den außenstehenden Betrachter die Frage, weshalb sich hier kein gemeinsames Schichtbzw. Klassenbewußtsein entwickelt hat. Es waren in erster Linie die strenge Hierarchie, der Vorrang der Arbeit vor der Person und die religiös verankerten Normen und Verhaltensweisen, die eine selbständige Organisierung der Dienstboten lange verhindert haben. Markante Erfahrungen von Herrn L. sollen dies veranschaulichen. Über den Zusammenhalt unter den Dienstboten in Konfliktsituationen meint Herr L. skeptisch: „Dös is a Ding der Unmöglichkeit. Oft oamal vertroagns si sieh nit recht mit'n Erstn (dem ersten Knecht), net, weil der, der steht in der Zwisl (Zwiespalt), der muaß soagn so und so, der muaß a streng sein oft, wo soviel Leit san, der Druck kumt von oben ... , dös woaß i selba als Melker guat, wia mia dös scho a passiert is, ja, woan du oan unterstützt hoast und hinterrucks hoams dia s'Haftl einigrennt, net." Das Prinzip der Hierarchie ist es, daß jedes Glied immer ein Darunter hat. Nicht nur herrschte eine Kluft zwischen Bauern und Dienstboten, sondern auch zwischen den Dienstboten untereinander. So wurde der erste Knecht von den ihm untergeordneten Dienstboten als direkter Vertreter des Bauern angesehen. Damit war auch ein Distanzverhältnis geschaffen. Herr L. selbst erlebte sich als Melker in der Position des

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