Die Roten am Land

I n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte auch im regionalen Kleineisengewerbe der wirtschaftliche Niedergang ein. Durch die sich entwickelnde Großindustrie begann ein für die Kleinbetriebe tödlicher Entzug von Arbeitskräften: Trotz kürzerer Arbei tszeit konnte die Waffenfabrik oft beträchtlich höhere Löhne bieten. Die Stammbelegschaft: invalid, pensioniert, am Arbeitsplatz gestorben Die Arbeitergeneration, die vor 1870 in Letten eintrat, zählte mit einer durchschnittlichen Werkszugehörigkeit von 38 Jahren zu Werndls Stammannschaft.3 Die durchschnittliche Dauer aller Beschäftigungsverhältnisse zwischen 1853 und 1912 betrug hingegen nur 3,7 Jahre. Insgesamt erlebten nur 48 Männer, das sind 1,6 Prozent der im „Arbeiterprotokoll" zwischen 1853 und 1912 verzeichneten Beschäftigten, die Pensionierung. Dies deutet sowohl auf einen häufigen Wechsel der Arbeitsstelle als auch auf vorzeitigen Tod und Invalidität hin. Die Altersversorgung unterlag keinen gesetzlichen Regelungen. Für eine Mindestunterstützung aus dem 1884 von der Waffenfabrik eingerichteten Altersunterstützungsfonds waren 25 Arbeitsjahre notwendig. 74 Prozent der Pensionisten stammten aus dem Bezirk Steyr, 13 Prozent aus dem übrigen Oberösterreich, rund 9 Prozent aus Böhmen und 3 Prozent aus sonstigen Gebieten der Monarchie. Die meisten waren verheiratet, bei keinem wurde eine politische Tätigkeit vermerkt. Sie waren während ihrer durchschnittlich 38,6jährigen Betriebszugehörigkeit eine wichtige Stütze des streng gegliederten Werksgefüges. Zum Zeitpunkt ihrer Pensionierung waren sie durchschnittlich 64,4 Jahre alt, bei einer deutlich geringeren Lebenserwartung als heute. 51 Jahre lang stand der aus Steinbach stammende Fabriksarbeiter Johann Sterneder hinter den Werkbänken: Er war am 12. Oktober 1869 mit 17 Jahren eingetreten und wurde am 27. Juni 1920 in den Ruhestand geschickt. Das Arbeiten bis ins hohe Alter gehörte damals zum Alltag: Der ältes te Arbeiter war der aus Mondsee stammende Schlosser Josef Klaushofer. Er trat 1884 bei Werndl ein und starb, unverheiratet, am 5. Juni 1905 im Alter von 80 Jahren. Beinahe fünf Prozent aller Arbeiter starben noch vor ihrer Pensionierung von der Werkbank weg. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung betrug knapp 55 Jahre, bei einer Betriebszugehörigkeit von durchschnittlich 27 Jahren. Ebenso schieden 26 Invalide frühzeitig aus. Sie waren bei ihrem krankheits- oder unfallbeding ten Austritt durchschnittlich bereits 33 Jahre für den Gewehrfabrikanten im Einsatz und bekamen ab 1870 vom Werk eine bescheidene finanzielle Unterstützung. Beim Tschechen Johann Brenda wird beispielsweise angemerkt: „Beim Abwerfen eines Riemens in der Tischlerei kam er mit der Stange in die Speichen der Drahtseilscheibe und erhielt einen Stoß in den Bauch, wovon er starb. " Zuwanderer: Ferlacher Büchsenmacher, tschechische Maschinisten Vor 1860 waren mit Ausnahme eines Drehers aus Böhmen, der zugleich Partieführer war, fast durchwegs Hilfskräfte der unmittelbaren Umgebung beschäftigt. Ab 1860 verstärkte sich der Zuzug tschechischer Metallfacharbeiter, der Zus trom von Arbeitern aus den lokalen Metallbetrieben Pils, Christ und Bandl sowie von Hilfskräften der Baufirma Wintennayr im benachbar ten Sierning. 4 Weitere Fachkräfte wanderten aus dem übrigen Oberösterreich und dem niederösterreichischen Industriegebiet um Wiener Neustadt zu. Unentbehrliche Gewehrspezialisten kamen aus dem Kärntner Büchsenmachergewerbe, insbesondere aus der Gegend von Ferlach sowie aus dem obersteirischen Industriegebiet. Ab den beginnenden 1880er Jahren wurden in Letten Lehrlinge schwerpunktmäßig zu Drehern und Schlossern sowie zu Schmieden ausgebildet. Bis 1912 erlernten rund 50 Burschen in dreijähriger Lehrzeit diese Berufe. Der Großteil wurde, sofern die Wirtschaftslage es zuließ und die Gesellen es wollten, vom Betrieb übernommen. Rund ein Drittel zog es vor, sich nach abgeschlossener „Abrichtung", das heißt Ausbildung, eine andere Arbeitsstätte zu suchen. Ein Lehrling wurde aus uns nicht bekannten Gründen entlassen, und der Schmiedlehrling Julius Marxrieser wurde 1913 mit dem Vermerk „Entlassen, Rot" vor das Werkstor gesetzt. Die Aufnahme ins Werk ging - ebenso wie die Entlassung, da keine Kündigungsfristen bes tanden - unbürokratisch vor sich: Die Menschen, die im Werk arbeiten wollten, stellten sich auf die Fabriksbrücke und wurden vom Werkmeister durch Zurufen ausgesucht.5 Die Fabrik wurde vom tschechischen Werkführer Josef Schimpke und seinen 22 Partieführern nach einer strengen Rangordnung geleitet. Acht dieser Partieführer waren Dreher, Schlosser, Mechaniker oder Maschinenbauer aus Böhmen und Mähren, vier wurden im Bezirk Steyr und vier im übrigen Oberösterreich geboren, zwei stammten aus Niederösterreich und je einer aus der Schweiz und aus Schlesien. Einer machte keine Angaben. Die Partieführer gehörten zu den bevorzugten Arbeitern, die beispielsweise bei der Vergabe der ab 1870 von der Waffenfabrik errichteten Werkswohnungen eindeutig bevorzugt wurden. Einzig der Partieführer Metzner aus 51

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