Die Roten am Land

Arbeitsbedingungen und Rechte einführen, die im Ausland oder im übrigen Österreich herrschten. Dort waren sie nämlich zumeist fortschrittlicher als im Tren tino. So mußte die Trientiner Industriearbeiterschaft täglich 16 Stunden arbeiten sta tt der sonst üblichen elf. Auch Kinder unter 14 Jahren wurden zur Arbeit herangezogen, und die Reallöhne lagen meist weit unter dem österreichischen Durchschnitt. Wenn es auch fast keine Industrie im Trentino gab, so gab es doch aufgrund der Migration ein Proletariat.5 Über die Politisierung der italienischen Arbei ter schrieb der trientinische Sozialist Antonio Piscel in einem Brief vom 5. Mai 1898 an die Sozialdemokraten nach Wien: „Wenn wir wollen, daß die Propaganda . .. Früchte trägt, müssen wir die italienischen Arbeiter organisieren, solange sie im Ausland sind. So wurde es auch in der Schweiz gemach t, wo verschiedene Propaga11dareisen italienischer Genossen so stark fruchteten, daß nun 30.000 italienische Arbeiter im Sommer in der Schweiz organisier t sind ... Auch wir haben mit unserer Propaganda bei den italienischen Arbeitern aus dem Trentino viel mehr gefruchtet, wenn wir sie in Bozen, Meran oder Innsbruck durchführten, als wenn wir sie in ihren Bergdörfern besucht hätten. Dank unserer Propaganda in Bozen ist fas t das ganze Fleimsthal sozialis tisch ... Man muß unsere Männer gewinnen, wenn sie weit weg sind vom Pfarrer, von ihren Frauen und dem Gebiet ihrer Dorfherren ... In Bozen, in Meran und in Innsbruck setzte sich der Umzug zur le tzten 1.-Mai-Feier zum Großteil aus italienischen Arbeitern zusammen. "6 Trotz Piscels Zuversicht zeigten die Trientiner auch im Ausland als industrielle Hilfsarbeiter noch lange die Tendenz, ihre ländlichen Lebensgewohnheiten und ihre kleinbäuerliche Denkweise beizubehalten. Obwohl alle Auswandererbroschüren ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Organisation hinwiesen, waren die Trientiner lange Zeit davon nicht überzeugt. 1908 waren nur acht Prozent d er in der Schweiz arbeitenden Italiener gewerkschaftlich organisiert. Trientinische Gruppen bewahrten oft noch Jahrzehnte nach dem Verlassen ihrer Heimat ihre ursprüngliche ethnische und kulturelle Homogenität. Sie schlossen sich zu trientinischen Clubs und Vereinen zusammen, die einen kulturell geselligen, aber nicht direkt politischen Charakter hatten. Die größten waren die „Societa di mutuo soccorso trentine" und die ,,Societa cattolica tirolese-italiana". Da ja die Trientiner Arbeiter großteils im Baugewerbe tätig waren, hatten sie vor allem auch wegen der Unstetigkeit ihrer Beschäftigung wenig Anschluß an die Gewerkschaften. Doch selbst im Bergbau und in der Textilindustrie erfolgte der gewerkschaftliche und poli tische Zusammenschluß mit den einheimischen Arbeitern ers t in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Außerdem wurden je tz t em1ge italienische Arbeitervereine gegründet, die zumeis t reichsitalienischen Organisationen nahestanden, wie zum Beispiel die „Socie ta d ei Lavoratori e Lavoratrici Innsbruck" in d er Müllerstraße l. Je zahlreicher die Trientiner in einer Ortschaft ver treten waren und je länger sie sich dor t aufhielten, desto mehr wurden sie auch zu einem politischen Faktor. In Vorarlberg etwa spielten italienischsprachige Arbeiter in Volksversammlungen und Streiks immer wieder eine wichtige Rolle und wurden zu einem häufigen Unruhefaktor. Bei der Reichstagswahl 1907, der ersten Wahl mit allgemeinem und gleichem Männer-Wahlrecht, erfuhren die Sozialdemokraten eine erhebliche Stärkung in etlichen Gemeinden mit italienischer Minderheit.7 Trientinische Arbeiterinnen: begehrt, weil billig und fügsam Es begannen auch immer mehr Frauen und Mädchen ihre Heimat zu verlassen, um Arbeit zu finden. 1907 waren 15 Prozent aller trientinischen Auswanderer weiblichen Geschlechts. Manche von ihnen zogen in das benachbarte Deutsch-Südtirol und arbei teten saisonal in der Landwirtschaft. Besonders begehrt waren in Bozen und Meran trientinische Dienstmädchen. In diesen Fällen wechselten die Mädchen nur zeitweilig, das heißt bis zu ihrer Heira t oder den Sommer über, den Wohnort. Sie wohnten bei ihrem Dienstgeber und blieben schon aufgrund ihrer Arbeit dem traditionellen Milieu verbunden. Dies änderte sich, als die Mädchen nach Vorarlberg, Deutschland od er in die Schweiz gingen und in Industriebetrieben, vor allem in der Textilindustrie, arbeiteten. Diese weibliche Auswanderung wurde von christlich-sozialen und konservativen Kreisen heftig bekämpft, da sie die herkömmliche Rolle der Frau in der bäuerlichen Familienwirtschaft untergrub und einen gefährlichen Eingriff in die traditionelle patriarchalisch geordne te Agra rgesellschaft darstellte. Es wanderten vor allem Mädchen und junge Frauen zwischen 16 und 30 Jahren aus. Sie hofften, der strikten familiären, nachbarschaftlichen und dörflichen Kontrolle in der alten Heima t entgehen zu können. Ebenso wurde es möglich, die Verehelichung von jenen materiellen Voraussetzungen unabhängig zu machen, die sonst in bäuerlichen Verhältnissen notwendig waren. In Vorarlberg war um 1907 weit über die Hälfte der italienischen Industriearbeitskräfte weiblich . Weil in der Textilindustrie kaum berufliche Qualifikationen nötig waren, wurden billige fremde Arbeitskräfte herangezogen -vor allem Frauen. Die aus Welschtirol stammenden Mädchen wurden schlechter en tlohnt und galten infolge ihrer Erziehung als anpassungsfähiger als die Männer.8 41

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