Die Roten am Land

D ie Ziele der trientinischen Arbeitsmigration waren vor allem Tirol und Vorarlberg (1911: 9277 Personen = 84,5 Prozent der nach Europa Auswandernden), aber auch die übrigen Länder der Habsburger Monarchie, andere europäische Länder sowie Übersee.2 Im Trentino hatte es schon seit langem Formen traditioneller Wanderung gegeben: Hirten zogen in die Poebene, Kesselschmiede durch Norditalien, Scherenschleifer und Wanderhändler durch ganz Europa und die USA; Forstarbeiter waren im gesamten Habsburgerreich tätig, Sägewerksarbeiter in Deutschland; Glasbläser, Köhler, Wursthändler und Kaminkehrer zogen durch Italien. Denn die im Trentino üblichen landwirtschaftlichen Kleingüter, die sogenannten „microfondi", machten häufig einen Nebenerwerb notwendig. Diese Migration war zumeist zeitlich begrenzt und wurde fast ausschließlich von der männlichen Bevölkerung getragen. Zwischen 1866 und 1890 wurde diese traditionelle Wanderung zur modernen, industriell bedingten Abwanderungsbewegung, die eine weitaus größere Anzahl von Menschen betraf und häufig auch zur endgültigen Emigration führte. Die Gründe für diesen Wandel lagen in einer ökonomischen Krise des Trentino. In diese Zeit fielen die Schließung des trientinischen Bergbaus, eine Krise der Seidenraupenzucht, schlechte Erträge in der Landwirtschaft und vor allem die Abtrennung der Lombardei und Venetiens von Österreich, was dem Handel durch hohe Zölle große Schwierigkeiten bereitete. In der Zeit der Industrialisierung war das Trentino von einem agrarischen, wirtschaftlich relativ autonomen Land zu einem Randgebiet von entwickelteren Ländern geworden. Gerade die gebirgigen Gegenden eigneten sich schlecht für eine Industrialisierung und wurden deshalb von der Emigration besonders betroffen. So betrug die jährliche Auswanderung aus den Hochebenen von Lavarone und Folgaria im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts 20 Prozent der Bevölkerung. Die geringste Emigration mit nur einem Prozent der Bevölkerung hatten im selben Zeitabschnitt das Etschtal, das untere Sarca- und das Ledrotal, weil einige Industriebetriebe, eine reichere Ackerbaukultur und etwas Fremdenverkehr doch mehr Arbeitsplätze boten. Aber neben ökonomischen spielten auch andere Motive eine große Rolle für die Emigration: Informationen aus dem Ausland förderten die Abwanderung ebenso, wie es die politischen Verhältnisse taten. Manche Trientiner wurden von Verwandten ins Ausland geholt, andere mußten nach einem Streik emigrieren, um wieder Arbeit zu finden. Auch kamen aus Industriegebieten Werbeagenten ins Land und überredeten Frauen und Männer zur Abwanderung. 40 Großprojekte: Möglichkeit zum Ausbruch aus den alten Verhältnissen Wasserregulierungen, Rodungen, Entsumpfungen, Straßen- und Eisenbahnbau schufen das große Arbeitsplatzangebot für die Emigranten nach Mittel- und Westeuropa. Es enstand der Trientiner Ausdruck der „Aisenponeri", der vom deutschen Wort Eisenbahner stammt.3 Nachdem im November 1859 die Eisenbahnstrecke Innsbruck-Kufstein und im Mai 1859 die Strecke Verona-Bozen eröffnet worden waren, begann man im Februar 1864 mit dem Bau der Brennerbalm. Dafür wurde eine große Zahl von Arbeitskräften benötigt. Im Sommer 1865 wurde die Höchstzahl der gleichzeitig verwendeten Arbeitskräfte erreicht; sie betrug 20.600 Mann. Die große Zahl der Fremdarbeiter macht ein Ereignis des folgenden Jahres deutlich: Infolge des Krieges zwischen Österreich und Italien mußten etwa 14.000 reichsitalienische Arbeiter die Baustelle verlassen. Auch die Vergabe der 16 Baulose, in welche die Strecke geteilt worden war, zeigte ein buntes Gemisch von Bauunternehmen aus vielen Regionen. Neben einheimischen Unternehmen kamen württembergische, ungarische, venetianische und vor allem trientinische Baufirmen zum Zug. Die Strecke von Freienfeld bei Sterzing bis Bozen wurde zur Gänze von trientinischen Unternehmen beziehungsweise von der „Impresa del Trentino" gebaut. Doch auch auf den anderen Baulosen muß die Zahl der italienischsprachigen Arbeiter recht groß gewesen sein. Denn für Einheimische galt es als Schande, beim Bahnbau zu arbeiten, und sie machten deshalb nur einen Bruchteil der Arbeiterschaft aus . Die italienischsprachigen Arbeiter hingegen waren so zahlreich vertreten, daß der von der Südbahngesellschaft in Ellbögen - circa 10 km südlich von Innsbruck - für verstorbene Bahnarbeiter errichtete Friedhof als „welscher Friedhof" in die Ortschronik einging; in der Kirche am Lueg, in Gries am Brenner, hielt Dr. Franz Egger, der spätere Bischof von Brixen, während der Bauarbeiten sonntags für Welschtiroler und italienische Arbeiter einen eigenen Gottesdienst mit Predigt.4 Klassenbewußtsein durch Arbeitsauswanderung Über die Arbeitsmigranten kamen Informationen und neue Ideen ins Trentino; dadurch entstand auch langsam ein Klassenbewußtsein. Die „Aisenponeri" galten als Vermittler einer neuen Lebensweise, denn sie hatten sich in der Fremde in ihren Auffassungen, in der Kleidung, in der Moral und in der Kultur verändert. Die zurückgekehrten Arbeitsmigranten wollten im Trentino die gleichen

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