Margot Rauch Die Aisenponeri Italienische Arbeitsmigranten in Tirol vor dem Ersten Weltkrieg 11Auswanderer, verteidigt Euch! Den vom Elend Verbannten ... Aufgrund der Bequemlichkeit der Kapitalisten, Deiner Landsleute, fristet die Industrie in Deinen Städten ein kümmerliches, schwindsüchtiges Dasein; in Deinen Tälern ist sie fast unbekannt. Arbeiter der Städte und Dörfer, sobald Du mehr schlecht als recht Deine Lehre abgeschlossen hast, mußt Du Dein Bündel packen, wenn Du Dich nicht dem unzureichenden Lohn und der enormen Ausbeutung der Kleinindustrie beugen willst oder kannst. Taglöhner oder kleiner Bergbauer, mußt Du vor der Arbeitslosigkeit fliehen oder die kargen Erträge Deiner Felder durch den im Ausland verdienten Lohn aufbessern? Flieht, flieht, italienische Arbeiter, flieht vor dem lachenden Himmel, vor den von den Ausländern bewunderten Tälern, vor den schönen Bergen, vor Euren Familien, entflieht für acht, neun, zehn Monate im Jahr der elenden Heimat."1 So beginnt eine Broschüre, die an italienische und trientinische Arbeiter verteilt wurde. Die Motive für die enorme jährliche Wanderungsbewegung aus dem Trentino, das vor dem Ersten Weltkrieg ein Bestandteil Tirols und damit der österreichisch-ungarischen Monarchie war, werden hier schon deutlich angesprochen. Aus dem Trentino wanderten Ende des 19. Jahrhunderts jährlich circa 13.000 Personen aus, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch schon einmal 25 .000 - das waren jährlich bis zu 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es handelte sich hierbei zum Teil um Emigranten, die für immer auswanderten, zum Teil um Migranten, welche zeitlich begrenzt ihre Heimat verließen. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die Auswanderungsbewegung zurück. D as Bild von den „ wanderlustigen Italienern" wurde nicht von den Arbeitszuwanderern selbst, sondern von den einheimischen Bürgern gezeichnet. Arbeitswanderung war angesichts der Verhältnisse in den Zielregionen alles eher denn lustig. Die Frage war, zu Hause nicht weniger als in der Fremde, wo und wie man mit der eigenen Hände Arbeit überleben würde - und welche politischen Konsequenzen aus den unbefriedigenden Verhältnissen zu ziehen waren. 39
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2