L osert traf seine Bauern also mitten in einer - vorläufig freilich nicht existenzbedrohenden -Anpassungskrise an die Modeme. Er ging aufs Ganze und überraschte im Sommer 1890 die lokale Öffentlichkeit mit einer kleinen Broschüre „Grundherr oder Bauer?", die die Verstaatlichung von Grund und Boden und die Verpachtung der Staatsländereien an den Höchstbietenden propagierte. Nur der wirtschaftlich Tüchtige werde sich im freien Pachtsystem durchsetzen, wobei die Grundpacht der „natürlichen Rente in vollkommenster Form" entspreche, ,,weil sich keiner einer Beschäftigung zuwenden würde, die nicht den vollen Arbeitslohn gewährte"1 • Alle fähigen Kräfte wurden als Pächter in Aussicht genommen, also bisherige Bauern gleich wie weichende Erben und Knechte. Mit einem Schlag schien ein altes Leidensthema der alpenländischen Agrargesellschaft, die Willkürlichkeit des Anerbenrechtes sowie die ererbte Hierarchie des Hofes, auflösbar. Sogar den Bauern wußte Losert seine Reform in rosigen Farben auszumalen: „Der Bauer wird allmählig aber sicher proletarisiert, d.h. von seinem Grund und Boden ge trennt. "2 War es da nicht besser, diesen Trend zu beschleunigen, auf das ohnehin fiktive Eigentum am Wenigen zu verzichten und dafür Anteil zu haben am Eigentum der Gesamtheit? Losert entnahm die Idee einer Vers taa tlichung von Grund und Boden den Werken des amerikanischen Nationalökonomen Henry George. Dessen Bücher „Progress and Poverty" und „Social Problems" erschienen in den 1880er und 1890er Jahren in mehreren amerikanischen und deutschen Ausgaben und erreichten ein brei tes Publikum. Sie führten das soziale Elend auf eine einzige Ursache - das Privateigentum - zurück, ohne allerdings eine politische Bewegung zur Änderung der Eigentumsordnung vorzuschlagen. Apostelgeschichte als „unverfälschter Sozialismus" Eine weitere geis tige Bezugsquelle Loserts war die christliche Überlieferung. Losert war zwar antiklerikal, aber nicht Atheist. Aus der Vielfa lt der Religionen stand ihm die ererbte christliche immer noch am nächsten, freilich ein Urchristentum, welches angeblich schon vor vielen Jahrhunderten mustergültig die Idee der Gleichheit verwirklicht hatte. Christus selbst ga lt ihm daher als „der erste große Sozialreformer", und die ganze Apostelgeschichte als „der echte, unverfälschte Sozialismus''.3 Loserts Kapitalismuskritik auf christlicher Grundlage lebte von häufigen Anleihen bei zeitgenössischen christlich30 sozialen Schriftstellern und Theoretikern, vor allem bei Prinz Liechtenstein und Pater Kolb. Mitte der achtziger Jahre waren im ka tholischen Lager sozialreformerische Strömungen entstanden, die den Gedanken des Schutzes von Kleingewerbe und Arbeiterschaft mit einer zugleich industriefeindlichen und antiliberalen Tendenz verschmolzen. Dieser Interessenverbindung verdankt Österreich den Beginn der Arbeiterschutzgesetzgebung der 1880er Jahre. Der sozial aufgeschlossene Flügel des politischen Katholizismus emanzipierte sich schließlich 1887 überhaupt als christlichsoziale Bewegung vom Altkonservatismus. Schließlich erhob Papst Leo XIII. selbst in „Rerum Novarum" 1891 seine Stimme gegen den „unersättlichen Kapitalismus", welcher „Handwerk und Arbeit allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz isoliert und schutzlos" unterwarf und durch die „Geldkünste des modernen Wuchers" Produktion und Handel zum Monopol von wenigen machte, die unter ihrem „sklavischen Joch " gebeugt gingen. Die Christlichsozialen Wiens begrüßten die Enzyklika mit einer Festversammlung im Wiener Musikvereinssaal. Auf dem Dritten österreichischen Katholikentag im August 1892 in Linz traten sie selbstbewußt der konservativen Fraktion entgegen. Diese explosive Stimmung färbte unverwandt auf Loserts Schreibweise in der „Allgemeinen Zeitung" ab. Losert ging jedoch einen Schritt weiter als die katholische Sozialreform, die zwar staatlichen Arbeiterschutz bei Krankheit, Invalidität und Alter forderte, jedoch die Eigentumsordnung nicht berührte. Dagegen sah Losert das Gemeineigentum durch die Bibel sanktioniert - ein reizvolles Thema seiner Auseinandersetzungen mit den Salzburger Ablegern der katholischen Sozialreform, die ihrerseits „die Religion als Schutzwehr"4 gegen die erstarkende Sozialdemokratie ins Treffen führten. ,,Land der Finsterlinge und Rückwärtser" Losert eroberte der Sozialdemokratie einen Stützpunkt nach dem anderen, und überall wo er im flachen Land und im Gebirge auftauchte, mobilisierte der Pfarrer in trauter Eintracht mit Bürgermeister und Lehrer die „katholische Mehrheit" gegen die angeblich gottlose Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Verein „Zukunft " fand häufig verschlossene Wirtshaussäle - weil der Pfarrer den Wirt unter Druck setzte. Die Ortshierarchie versuchte mit bürokra tischen Tricks, die erste sozialdemokratische Versammlung in Dienten zu verhindern. Kanzelreden immunisierten das heimische Volk mit
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2