Die Roten am Land

Danach war Johann Filzer in Tirol und Salzburg als Zimmermann tätig und wurde um 1884 auch Meister; 1885 übernahm er die väterliche Landwirtschaft. Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts waren in Tirol noch immer zwei Drittel der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft tätig. Es gab keine nennenswerte Industrie. Bauer zu sein bedeutete in Tirol vorwiegend, in einem Klein- oder Mittelbetrieb unter zehn Hektar zu wirtschaften, wobei die „Selbstausbeutung" der eigenen Familienmitglieder - der weichenden Geschwister und Kinder - den wirtschaftlichen Zusammenbruch verhindern sollte. Zahlreiche Anwesen waren hoch verschuldet - allein 1895 wurden in Tirol 1400 Höfe versteigert. Ein beträchtlicher Teil der ländlichen Bevölkerung war somit zur Abwanderung gezwungen und versuchte in anderen Branchen und Regionen Arbeit zu bekommen. Dieses Schicksal sollte auch Hans Filzer ein Leben lang begleiten - immer wieder mußte er zwischen einer Existenz als Bauer und als unselbständiger Arbeiter pendeln. Johann Filzer begann schon in seiner Jugend, intensiv Bücher und Schriften zu lesen . Dabei eignete er sich nicht nur ein umfangreiches naturwissenschaftliches Wissen an - vor allem in Astronomie und Gesteinskunde - , sondern er interessierte sich auch für soziale Probleme. Der Inhalt der Werke von Marx, Engels und Lassalle wurde ihm durch die Veröffentlichungen Kautskys zugänglich. Die Ideen dieser Denker sollten ihn zeitlebens nicht mehr loslassen. Filzer gehörte somit zur Gruppe jener „Bauernphilosophen " - ähnlich dem Vorarlberger Franz Michael Felder oder dem Oberösterreicher Konrad Deubler - , die sich, entgegen landläufigen Klischees vom „dummen Landvolk", autodidaktisch Bildung und Wissen anzueignen vermochten. ,,Schon als Geselle" - so der Wiener Dichter Alfons Petzold - ,, ha tte er viele Zeitungen und Bücher gelesen und sein beschränktes Wissen zu vertiefen gesucht. Nun als freier Bauer trachtete er ers t di e Lücken seiner Bildung auszufüllen. Die Arbeitspausen in den langen Kitzbüheler Wintern gaben ihm richtige Zeit dazu."3 Theoretiker, Agitator und Sozialreformer 1895 gab Filzer im Selbstverlag sein Buch „Anschauungen über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von ihrem Urzustande bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung des Bauernstandes" heraus.4 Filzer beginnt seine „Anschauungen" mit der Darlegung der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, in starker Anlehnung an die Arbeiten Morgans, Engels und Lafargues. Im Hauptteil beschäftig t er sich mit der Situation der Arbei ter, Kleingewerbetreibenden und Bauern im Zeitalter des Kapitalismus. In der daran anschließenden Diskussion der Lösungsvorschläge verwirft er sowohl die Ideen Schulze-Delitzschs - ,,Selbsthilfe" mi ttels Spar- und Darlehenskassen - als auch die Bestrebungen der Anarchisten, welche für ihn Ausdruck „blinden Klassenhasses und (der) Verirrung" (S. 131) einer fehlgeleiteten Gruppe von Menschen waren. Einzig in der organisierten Arbeiterbewegung sieht er eine Möglichkeit zur Überwindung der „bodenlos fehlerhaften Wirtschaftsordnung" (S. 135). Als ein wunder Punkt dieser Wirtschaftsordnung gilt ihm die „furchtbare Arbeitsverschwendung", die es mit sich bringe, daß „eine Unmasse von Waren erzeug t (wird), die keinen mit der Vernunft in Exis tenz zu bringenden Zweck erfüllen" (S. 135 f.). Zum Schluß geht er noch eigens auf die wirtschaftliche Krise des alpinen Kleinbauerntums ein. Deren Ursachen sieht er in den „primitiven Produktionsverfahren", welche zu „niedrigen" Arbeitsprodukten führen, in der Konkurrenz von Waren, die mittels der Eisenbahn billiger ins Land kämen und die Preise heimischer Produkte ins bodenlose sinken ließen, und im Umstand, daß „das Arbeitsprodukt des Landmannes zum Spielball des Großkapitals geworden" sei (S. 156). Filzer bedauert in seinem Buch besonders, daß dem „Landmann meistens tiefere Einsichten in die socialen Zustände fehlen" und er daher nur allzuoft die „Schuldigen" seines Niederganges am falschen Ort suche, indem er „den Juden zum Schuldträger" mache - für Filzer ein ,,geistiges Armutszeugnis" (S. 7) . Eine Änderung dieser Zustände erschien ihm - und hier war er in gewisser Weise „ethischer Sozialist" - nur durch die Hebung des Bildungsstandes der ländlichen Bevölkerung möglich: „Das einzig sichere Mittel, um eine wirkliche Besserung unserer Gesellschaftszus tände herbeizuführen, ist nur in einer höheren Bildung ... in einem umfassenden Wissen, auf möglichst viele Individuen vertheilt, zu suchen." Ansonsten, so seine Meinung, wären die bes ten Reformen vergebens. Die erforderlichen Mittel seien in den „Riesensummen, die heutzutage die barbarische Institution des Militärismus verschlingt", vorhanden.5 Schon zu seiner Gesellenzeit war Filzer „Funktionärsmulti " geworden; unter anderem bekleidete er das Amt des Obmannes der Gehilfen in der Handwerker-Genossenschaft, er war Vorsitzender in deren Krankenkasse, Mitbegründer der Kitzbüheler Sennereigenossenschaft und - ab 1893 - Leiter des dortigen Volksbildungsvereins. 1891 rief Filzer - zusammen mit anderen Bauern seiner Heimatstadt Kitzbühel - die „Raiffeisenkasse Kitzbühel23

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