Die Roten am Land

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten gelang es den Konservativen, in der Vorarlberger Bevölkerung ein Gemeinsamkeitsbewußtsein zu erzeugen, das eng mit den Anliegen der katholischen Kirche und der Konservativen Partei verknüpft war. Die Abwehr des „Fremden" Das auf diese Weise entstehende Landesbewußtsein enthielt als zentrale Bestandteile die Abgrenzung nach außen und die Ausgrenzung von Gruppen im Inneren. Betroffen davon waren neben den erwähnten Andersgläubigen und Andersdenkenden vor allem auch die Arbeitszuwanderer: Ab etwa 1870, vor allem aber im Zusammenhang mit dem Bau der Arlbergbahn 1880-1884 erfolgte der erste große Einwanderungsschub von italienischsprachigen Arbeitern und Arbeiterinnen, die in der Bauwirtschaft beziehungsweise in der Textilindustrie als stark belastbare und billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Diese „fremden Bettler", die dank ihres geringen Lohnes ta tsächlich bisweilen gezwungen waren, zu betteln, um ihr Überleben zu sichern, galten nicht nur in der konservativen Propaganda als Symbol für die Auswüchse der Industrialisierung, sie lieferten auch der einheimischen Bevölkerung eine deutliche „Erfahrung des Fremden". Diese Erfahrung wirkte für die Einheimischen in besonderem Maße identitätsstiftend: Um sich seiner selbst bewußt zu werden, braucht man das ,,Fre1nde". Die in diesem Zusammenhang entwickelten Vorurteile über die „Fremden" hatten drei Zielrichtungen: - Sie richteten sich wirtschaftlich gegen die Arbeitszuwanderer als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt; - sie richteten sich politisch gegen die liberalen Fabrikanten, die die Zuwanderer ins Land geholt hatten; - sie richteten sich kulturell gegen die vermeintliche Bedrohung festgefügter sozialer Zuordnungen, symbolisiert in „Stamm" oder „Rasse", durch die von der Industrie angeworbenen Fremden. 1885 brachte der katholisch-konservative Landtagsabgeordnete Martin Thurnher ein „Gesetz über die Besteuerung der Auswärtigen" im Landtag ein - als „Schutz gegen die Überschwemmung des Landes von Welschen", wie Thurnher in seinen Lebenserinnerungen schreibt.8 Mit dem Auftreten der Sozialdemokraten kam ein weiteres Motiv für die Ausgrenzung der Zuwanderer hinzu: deren angebliche politische Orientierung. 1908 zum Beispiel konstatierte das „Vorarlberger Volksblatt" „zwei betrübende Umstände, nämlich, daß die Verwelschung der Stadt Bludenz riesige Fortschritte macht und diese Südländer ihrer Menge und Stärke sich bewußt sind , und weiters, daß der Großteil derselben der sozialdemokra tischen Partei anhängt oder gar schon verschrieben ist. "9 In Wirklichkeit waren die Arbeitszuwanderer zwa r bei weitem nicht so sehr der Sozialdemokratie verschrieben, wie das „Volksblatt" befürchtete, 10 aber die Gleichsetzung von „Fremden " und Sozialdemokraten wurde nun von den Konservativen systematisch betrieben. „Heimatlose" Sozialdemokraten Zunächst hatten die Konservativen zwar noch relativ gelassen auf das Auftreten der Sozialdemokraten reagiert, die 1890 eine erste Landesorganisation der SDAP für Tirol und Vorarlberg gegründet hatten. Spätestens seit der Gründung des sozialdemokratischen „Politischen Vereins für Vorarlberg" 1893 aber wetterten die Konservativen gegen „die Pläne einer religionsfeindlichen vaterlandslosen internationalen Umsturzpartei".11 Sie antworteten mit der Gründung eines „Christlichsozialen Volksvereins" und erster christlicher Arbeitervereine. Die Ausgrenzung der Sozialdemokraten aus der Vorarlberger „Gemeinschaft" fiel den Konservativen dabei relativ leicht, stützte sich die neue Partei doch überwiegend auf zugewanderte Handwerker und Arbeiter, die aufgrund ihrer besonderen Situation früher als die einheimischen ein Klassen.bewußtsein entwickelten und ihre Anliegen gemeinsam zu vertreten suchten. Die meisten der führenden Genossen der ersten drei Jahrzehnte - Johann Coufal, Ignaz Leimgruber, Franz Pechota, Coloman Markart, Hermann Leibfried und Eduard Ertl-waren nicht in Vorarlberg geboren. Den Konservativen und deren ,,Vorarlberger Volksblatt" galten diese Männer - unabhängig von ihrer Aufenthaltszeit im Lande - als „landfremde " und „heimatlose Gesellen". Der konservative Antisozialismus wurde zudem bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit einem ausgeprägten Antisemitismus verknüpft - ein Element, das bis zur Ausschaltung der organisierten Sozialdemokratie 1934 ein fester Bestandteil der politischen Propaganda der Konservativen blieb. So bezeichnete etwa ein Redakteur des ,,Vorarlberger Volksblatts" den Herausgeber der sozialdemokratischen „Vorarlberger Wacht" 1911 als „fremden jüdischen Sozialdemokraten schlimmster Sorte".12 Als der ,,Volksblatt"-Redakteur im darauf folgenden Beleidigungsprozeß freigesprochen wurde, kommentierte seine Zeitung: ,,Die christliche Weltanschauung hatte sich gegen die volksfremde jüdisch-sozialistische zu verteidigen. Ein glänzender Sieg der christlichen Lebensauffassung war das Ergebnis der Auseinanderse tzung. "13 135

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