E iner der Gründe für diese Entwicklung ist sicher die besondere Form der Industrialisierung Vorarlbergs: Von Anfang an dominierte hier die Textilindustrie, die sich in ihrer Standortwahl zu allererst am Zugang zur Wasserkraft orientierte. Das führte zu einer über die beiden Haupttäler Walgau und Rheintal verstreuten Ansiedlung der Fabriken. Dadurch entstanden keine industriellen Ballungszen tren, wenngleich einige Gemeinden wie Rieden, Hard, Kennelbach, Dornbirn, Feldkirch, Bürs und Bludenz einen besonders hohen lndustrialisierungsgrad aufwiesen. Dabei erhielt sich in Vorarlberg relativ lang eine Form der Doppel-Beschäftigung, bei der sich Fabriksarbeiter zugleich auf eigenem landwirtschaftlichen Grund als Nebenerwerbslandwir te betätigten. Die Folge: Der Proletarisierungsgrad blieb relativ gering; die soziale Kontrolle und Einbindung in der dörflichen Umgebung blieb trotz der Industrialisierung aufrecht. Ebenso wichtig wie die sozialen Verhältnisse sind die politischen Strukturen in Vorarlberg gewesen: Im letz ten Drittel des 19. Jahrhunder ts konnte sich hier der Klerus als starke politische Kraft etablieren, die vor allem auch im ideologischen Bereich wirksam wurde. So bildete sich parallel zur Industrialisierung ein ethnisch-regionales Bewußtsein in Form eines „a lemannischen" Landesbewußtseins heraus, das maßgeblich von den Interessen der herrschenden Elite bestimmt wurde. Eines der wesentlichen Merkmale dieses Landesbewußtseins ist die Abgrenzung sowohl gegen die österreichische Bevölkerung östlich des Arlbergs als auch gegen Zuwanderer-Minderheiten im Lande selbst. Die Tradition der Ausgrenzung Ausgrenzungsversuche unter ethnisch-regionalen oder religiösen Vorzeichen gab es freilich nicht erst mit dem Beginn der Arbeitszuwanderung, sondern schon lange vorher. So ist in Vorarlberg eine jahrhundertealte Tradition des An tisemitismus festzustellen . Er wurde insbesondere von den vorarlbergischen Landständen - jenen Stadt- und Dorfoberen, die die Gerichtsbarkeit und andere öffentliche Funktionen innehatten - geschürt und aufrechterhalten: Die jüdischen Bürger galten in ihren Augen als Fremde, deren Vertreibung aus dem Land eines der kontinuierlichsten Ziele der landständischen Politik war.2 Wer sich zur angestammten Bevölkerung des Landes zählen darf und wer nicht, war auch Gegenstand der öffentlichen Diskussion in den Jahren 1848/49. Einige Liberale hatten nach dem März-Aufstand in Wien eine neue Wahlordnung für Vorarlberg gefordert und ihren Aufruf mit „mehrere patriotische Unterländer" unterzeichnet.3 Die Antwort folgte prompt: 134 ,,Die sich so nennenden Patrioten leben zwa r im Unterlande, gehören aber nicht Alle nach Geburt, Keiner der Gesinnung nach unserem Lande an", stellten „einige Vorarlberger" in der folgenden Ausgabe des „Bregenzer Wochenblattes" fest.4 Mit einem Appell an die „Herzen der Vaterlandsfreunde" wurde 1861 auch die konservative Bewegung gegen die Liberalen ges tartet. Letzteren war es nach der Einrichtung eines eigenen Landtages für Vorarlberg dank des Zensus-Wahlrechtes gelungen, die politische Macht im Lande zu übernehmen . Die liberale Elite der Fabrikanten und Intellektuellen war weitgehend identisch mit den Gründern der evangelischen Gemeinde, die nach dem Erlaß des Protestantenpatentes im Jahr 1861 errichtet werden konnte . Genau gegen diese Gründung und gegen das Protestantenpatent allgemein richtete sich eine Plakat- und Unterschriftenaktion des späteren Landtagsabgeordneten Josef Anton Ölz, der forderte, „daß dem Lande Vorarlberg die Glaubenseinheit erhalten werde und die Protestanten von der Ansäßigmachung ausgeschlossen bleiben."5 Richtete sich diese Initiative zumindest vordergründig noch gegen Andersgläubige, so standen bald darauf Andersdenkende im Mittelpunkt der katholisch-konservativen Agitation, wobei das Verhältnis der politischen Gegner zur katholischen Religion stets in die Propaganda miteinbezogen wurde: Der Bauer und Dichter Franz Michael Felder beispielsweise, wegen seiner sozialreformerischen Ideen ein Dorn im Auge der Mächtigen, wurde als „Freimaurer" denunziert6 , den Liberalen wurde entweder ,,Go ttlosigkei t" oder die Zusammenarbeit mit Juden angelastet.7 Im Vordergrund der klerikal-konservativen Propaganda stand zunächst der Kampf gegen die Liberalen. Tatsächlich gelang es den Konservativen mit Hilfe ihrer Zeitung „Vorarlberger Volksblat t" - gegründet 1868 - und durch den Aufbau katholischer Vereine, sogenannter „Kasinos" - in zahlreichen Vorarlberger Gemeinden eine s tarke politische Stimmung zu ihren Gunsten zu erzeugen. Die Angriffe gegen die Liberalen standen dabei - und dies ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig - stets unter antikapitalistischen Vorzeichen, war es doch das liberale Besitzbürgertum, mit einem Großteil der Fabrikanten, das den Machtbestrebungen der Konservativen im Wege stand. Bei den Landtagswahlen 1870 konnten die KlerikalKonservativen die Früchte ihrer Arbei t ern ten: Sie stellten die politische Machtverteilung im Landtag auf den Kopf, indem sie mit nunmehr 15 Abgeordneten vier Liberalen gegenübersaßen - gegenüber 14 Liberalen und fünf Konserva tiven in der vorhergehenden Wahlperiode.
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