Die Roten am Land

D amit wurde beides - Rührung angesichts hungriger Möwen, Verachtung für einen Menschen - nicht nur nebeneinander, sondern in gewisser Weise gleichges tellt: eines so selbstverständlich, so nebensächlich wie das andere. Für die Monstrosität dieser Vereinigung von Standpunkten dürfte die Masse derjenigen, die zu Weihnachten 1943 ein „Vorarlberger Tagblatt" zu lesen bekamen, nicht sensibel gewesen sein. Das ist anzunehmen. Wer diesen Mangel an Sensibilität allein als Resultat der nationalsozialistischen Propaganda deuten möchte, liegt freilich falsch. Er war nicht gänzlich neu, hatte vielmehr Tradition. Einen Schlüssel zu dieser Vorgeschichte liefert die oben angeführte Notiz zu Samuel Spindler, wenn es da heißt: „Heimische Arbeiter - auch wenn sie sich zu den Marxisten bekannten - wären sicher ni emals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet einen Juden aus dem Osten als ihren Vertreter zu wählen." Sätze dieser Art waren in Vorarlberg schon in den vier Jahrzehnten vor dem „Anschluß" Österreichs an Hitlers Deutschland oft gefallen. Und es waren viele nicht „auf den Gedanken gekommen", sie in Frage zu stellen. ,, Landfremd" Die Industrialisierung Vorarlbergs brachte es mit sich, daß in den aufstrebenden Betrieben nicht nur „heimische" Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt wurden, sondern auch viele Menschen aus anderen Gebieten. Ihnen allen gegenüber - besonders ausgeprägt freilich gegenüber den Zuwanderern aus italienischsprachigen Gebieten - entstand aus politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Motiven ein Klima der Ablehnung und der Ausgrenzung von seiten der „Einheimischen".2 Auch der Zuwanderer Samuel Spindler wurde mit diesem in Vorarlberg herrschenden gesellschaftlichen Klima konfrontiert. Samuel Spindler wurde 1882 in Maidan/Sredni, einer kleinen Ortschaft im Galizien der österreichisch-ungarischen Monarchie, als uneheliches Kind der Chana Spindel geboren. Er gehörte wie seine Mutter der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Die Verhältnisse, in denen er aufwuchs, dürften ärmlich gewesen sein. Doch war es ihm möglich, sich eine Bildung anzueignen, die zumindes t das Lesen und Schreiben der deu tschen Sprache umfaßt haben mußte. Mit 15 Jahren verließ Samuel Spindler seinen Geburtsort, um sich als wandernder Handwerksbursche oder Reisender durchzubringen . Seine Wanderschaft führte ihn durch Gebiete Deutschlands, Hollands und der Schweiz. Im Großherzogtum Baden des Deutschen Reichs geriet Samuel Spindler 1902 in Konflikt mit den Gesetzen und kam in Haft- das Schicksal vieler wandernder Handwerksburschen aus der Unterschicht. Auch in Österreich-Ungarn lief gegen Samuel Spindler ein Verfahren, hier wegen des„Verbrechens der Stellungsflucht ". Er hatte sich zwar vom Ausland aus mehrmals schriftlich wegen der Stellungsangelegenheit an die österreichischen Behörden gewendet, diese aber reagierten auf seine Schritte ers t, als er sich freiwillig s tellte - im Juni 1904 in Bregenz. H ier wurde festgehalten, daß er falsche Personalien angegeben hatte, nämlich das falsche Datum und den falschen Ort seiner Geburt. Da dies von den Behörden rechtlich nicht · weiter verfolgt oder bestraft wurde, muß es Samuel Spindler gelungen sein, darzulegen, daß er seinen richtigen Geburtstag und -ort nicht gefälscht, sondern nicht gewußt hatte. Für jemanden aus der Unterschicht war solche Unkenntnis nichts Außergewöhnliches. Nach der Verbüßung einer Haftstrafe ging Samuel Spindler in die Schweiz, 1907 kehrte er nach Bregenz zurück.3 Mit seiner Niederlassung in Vorarlberg scheint Samuel Spindler in mancher Hinsicht den Schlußstrich unter sein bisheriges Leben gezogen zu haben. Deutlich wird dies in einer vorläufig zwar nicht offiziellen, aber doch konsequent durchgehaltenen Namensänderung. Er hieß wie seine Mutter mit Nachnamen Spindel, wandelte diesen aber in Spindler um. Die Vorzeichen, unter denen diese Namensänderung geschah, lassen sich erahnen: ,,Spindler" hatte für Vorarlberger Ohren einen eher vertrauten - und damit auch vertrauenswürdigeren - Klang als der Name „Spindel", in dem die fremde Herkunft und für besonders „Hellhörige" auch die jüdische Abstammung seines Trägers mittönten. Samuel Spindlers Verhalten trägt also die Züge einer dem Selbstschutz dienenden Verschleierung. Davon war nicht nur sein Familienname betroffen. Er verfuhr auch mit seinem Vornamen in einer Weise, die ihn als „Brandzeichen " außer Kraft setzen sollte: Wenn er unterschrieb, dann mit dem zu „S." abgekürzten Vornamen.4 Diese Vorgangsweise wird erst dann so recht verständlich, wenn man sich den in Vorarlberg verbreiteten und von den tonangebenden politischen Gruppen - Christlichsozialen und Deutschnationalen - ge tragenen Antisemitismus vor Augen hält. Daß sich Samuel Spindler von der jüdischen Religion abgewandt hat, darf allerdings nicht vorrangig als Versuch gesehen werden, sich den in Vorarlberg herrschenden Verhältnissen anzupassen, um sich vor ihnen zu schützen. Im Jahre 1912 ließ sich Samuel Spindler in Bregenz evangelisch taufen.5 Damit war er durchaus noch gesellschaftlichem Druck ausgesetzt, lebte er doch in einer Gegend, die vorwiegend katholisch war und in der das 115

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