Die Roten am Land

Arbeitsleben und Arbeiterbewegung im westlichen Osterreich MUSEUM INDUSTRIELLE ARBEITSWELT

Kurt Greussing (Hg.) Die Roten am Land

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stadt Steyr und der Sozialistischen Partei Oberösterreichs Vor hundert Jahren haben sich in den Dörfern und Kleinstädten Österreichs dramatische Wendungen vollzogen: sozial , politisch , kulturell. Denn durch Bahnbau und Industrialisierung ist in die ländlichen Gebiete unseres Landes eine Schneise geschlagen worden , die die alten Verhältnisse teilweise gründlich erschüttert , tei lweise aber auch harten Widerstand gegen das Neue herausgefordert hat. Diese Umwälzungen nährten bei vielen den Wunsch nach besseren, gerechteren , solidarischeren Verhältnissen; andere sahen Gefahr: die Gefahr des Umsturzes der alten Ordnung , der alten Machtverhältnisse, der Sicherheit des gewohnten Lebens und der vermeintlich immer schon gelebten sozialen Beziehungen . Allemal waren es Hoffnungen auf eine andere Gesellschaft, die viele Männer und Frauen , sozialdemokratische ebenso wie katholische, bei ihrer politischen Tätigkeit beflügelt haben: Es ging um die Heimat Dorf , um Lebensbilder und Zukunfts(t)räume . Der vorliegende Text-Bild-Band schildert weniger die Entwicklung der politischen Organisationen als vielmehr die Lebensmilieus , die sich Arbeiterinnen und Arbeiter - oft Zuwanderer - aufgebaut haben, abseits der konservativen dörflich-kleinstädtischen Kultur und oft in massivem Gegensatz zu ihr. Mit seinen 180 Abbildungen und 18 Textbeiträgen ist der Band nicht nur eine historische Dokumentation , sondern eine spannende Sozialreportage - bis in die Gegenwart.

Arbeitsleben und Arbeiterbewegung .. im westlichen Osterreich Kurt Greussing (Hg.) MUSEUM INDUSTRIELLE ARBEITSWELT STEYR 1989

Graphische Gesamtkonzeption und Bild-Umbruch: Sigrid Augeneder, Wien Text-Umbruch: Harald K. Kremsner, Linz, mit Apple®Macintosh II® Satz: Verein Museum Arbeitswelt, Steyr Wissenschaftliche Mitarbeit, Bild- und Archivrecherche: Hubert Auer, Innsbruck Markus Barnay, Bregenz-Freiburg / BRD Eveline Böckle, Dornbirn-Innsbruck Werner Dreier, Bregenz Josef Enzendorfer, Salzburg Karl Flanner, Wiener Neustad t (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung) Hildegard Fraueneder, Salzburg Hanns Haas, Salzburg Gabriele Heger, Linz (Museum Industrielle Arbeitswelt, Steyr) Irene Hinum, Innsbruck Rosi Hirschegger, Innsbruck Hubert Hummer, Thürnau-Linz Andrea Mayr, Innsbruck Johann Mayr, Linz (Museum Industrielle Arbeitswelt, Steyr) Wolfgang Meixner, Patsch /T. Reinhard Mittersteiner, Hard-Wien Bernhard Natter, Innsbruck Barbara Oberwasserlechner, Innsbruck Wolfgang Quatember, Traunkirchen /OÖ (Widerstandsmuseum Ebensee) Margot Rauch, Innsbruck Andreas Resch, Scharnstein / OÖ Gerhard Schäffer, Bürmoos / Sbg. (LudwigBoltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Salzburg) Franziska Schneeberger, Salzburg Gene Sensenig, Salzburg (Ludwig-Boltzmann-Ins titut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Salzburg) Sabine Smolik, Salzburg Karl Starke, Vöcklabruck Franz Steinmaß!, Grünbach/OÖ Henriette Stevens, Volders / T. Josef Stockinger, Steyr Christoph Thanei, Innsbruck Erika Thurner, Linz-Salzburg Harald Walser, Altach/Vbg. Thomas Weidenholzer, Salzburg Udo B. Wiesinger, Steyr / OÖ (Museum Industrielle Arbeitswelt, Steyr) Hans-Jörg Wittner, Linz (Institut für Wissenschaft und Kunst - Oberösterreich). © Museum Industrielle Arbeitswelt, Steyr 1989 Alle Rechte vorbehalten Titelmotiv: Auf dem Weg zum 1.-Mai-Aufmarsch in Lenzing / OÖ 1966 Herstellung: Druckerei Rudolf Trauner Ges.m.b.H., Linz Printed in Austria ISBN 3-900971-01-3

Inhalt Vorwort Josef Weidenholzer 7 Land im Wandel - Das langsame Ende der Vergangenheit 8 Harald Walser ,,Lieber mit Hindernissen Jahre kämpfen und dann..." Reformansätze im Bregenzerwald zur Zeit Franz Michael Felders (1839-1869) 13 Baustellen als Bruchstellen - Bahnen der Hoffnung 18 Wolfgang Meixner ,, ... daß es keine dümmere Phrase gibt, als zu sagen, es war immer so" Johann Filzer - Sozialistische Bauernagitation in Tirol und Vorarlberg um 1900 22 Hanns Haas Schubkraft der Utopien, Schwerkraft der Verhältnisse Der Salzburger landwirtschaftliche Wanderlehrer Anton Losert zwischen Urchristentum, Sozialdemokratie und Anarchismus 29 Arbeitszuwanderung - Verschubmassen der Konjunkturen 35 Margot Rauch Die Aisenponeri Italienische Arbeitsmigranten in Tirol vor dem Ersten Weltkrieg 39 Soziale Struktur - politische Bewegung 43 Josef Stockinger Arbeiter im Industrie-Dorf: Simulanten, Aufwiegler, Socialisten Arbeitsbed~!lgungen und Arbeiterschaft im Zweigwerk Letten der Osterreichischen Waffenfabriksgesellschaft 50 Udo B. Wiesinger ,,Ihr wißt es, was der erste Mai will" Maifeiern in Oberösterreich 1890 bis 1918 57 Land-Los: Knechte, Mägde, rote Inseln 73 Franziska Schneeberger ,,Der Druck kumt von oben ... " Eine „Dienstbotenkarriere" im Salzburger Pinzgau 75 Andreas Resch „Rotes Gsott" und christlichsoziale Bauern Der Steyrer Landarbeiterstreik im Jahre 1922 81 Johann Mayr ,, ... die schwieligen Arbeitshände zum Bunde gereicht" Leopold Reiter - Karl Spielbüchler: Sozialdemokratische Politik für Bauern und Arbeiter 84 Hubert Hummer „Waun heit mei Vota aufstand, der sogat, ihr hoabts den Hümmi auf der Welt . Des haum mir erkämpft ... " Ein Bericht zu politischen Sozialisation im Kohlenbergbau-Revier 93

Schick dich in die Welt hinein ... Christliche Arbeiterbewegung 99 Bernhard Natter Ein „Schutzdamm gegen die Sturmesfluten des Sozialismus" Zur politischen Funktion der Bildungs- und Kulturarbeit der katholischen Arbeiterbewegung in Tirol vor 1934 106 Bruchlinien der Gesellschaft: Antisemitismus, Sittlichkeit, Heimat 111 Eveline Böckle Landfremd, sozialdemokratisch, jüdisch Die dreifache Ausgrenzung des Samuel Spindler 114 Andrea Mayr ,,Geh deine Bahn und laß die Leute schwätzen" Leben und Politik der Tiroler Landtagsabgeordneten Maria Ducia (1875-1959) 126 Markus Barnay ,,Echte Vorarlberger" und „fremde Bettler" Bildung von Landesbewußtsein und Ausgrenzung von Zuwanderern in Vorarlberg im 19. und 20. Jahrhundert 133 Wehr der HeimatSchutz der Republik 138 Wolfgang Quatember Generalstreik im Dorf Der Aufstand des Republikanischen Schutzbundes im Februar 1934 in Ebensee 145 Franz Steinmaßl Scheidewege Der Februar 1934 und die Folgen: Drei politische Lebensbilder aus dem Unteren Mühlviertel 148 Vom Proletarier zum Soldaten der Arbeit 156 Nach 1945: Die Roten am Land - zu Hause? 166 Erika Thurner Vom proletarischen Insel-Dasein zum Leben im „Roten Salzburg" Salzburger Impressionen nach dem Zweiten Weltkrieg 173 Einsichten. Aussichten. 179 Hildegard Fraueneder Arbeite, Frau, die Freude kommt von selbst! Frauenalltag von 1945 bis heute 182 Bildquellen 191 Autorinnen und Autoren 193 Die Begleittexte zu den Bildern und den Beiträgen sind vom Herausgeber.

VorvVort Über den augenfälligen historischen Erfolgen der Arbeiterbewegung und den spektakulären Auseinandersetzungen in den großstädtischen und großindustriellen Regionen Österreichs wird leicht eines übersehen: daß die Entwicklung der gesan1ten sozialdemokratischen Bewegung in Gebieten maßgeblich mitentschieden wurde, wo sie gerade keine Mehrheit erringen konnte und wo selbst innerhalb der Arbeiterschaft die politische Arbeit immer wieder auf Schwierigkeiten stieß. Der Text-Bild-Band 11Die Roten am Land" schildert diesen Prozeß mit reichhaltigem Material: die Entstehung sozialdemokratischer Lebensmilieus in den ländlichen Regionen 11 entlang der Westbahn", die Veränderung der Arbeitsverhältnisse, die Beharrungskraft der konservativen Kultur - und die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft, die viele Männer und Frauen bei ihrer politischen Tätigkeit beflügelt hat. Der Band ist aus den Vorbereitungen zu einer großen Ausstellung im Museum Industrielle Arbeitswelt in Steyr - mit demselben Thema - hervorgegangen. Das Buch stellt Material, aber auch Autorinnen und Autoren vor, die für eine Sozialgeschichtsschreibung zu den ländlichen und kleinstädtischen Regionen Österreichs wichtige neue Impulse geben: Der Verein Museum Arbeitswelt ist froh, solchen Unternehmungen eine Plattform zu bieten. Den Förderern der Publikation, der Stadt Steyr und der Sozialistischen Partei Oberösterreichs, sei auch deshalb für ihre Unterstützung gedankt. Univ. Prof. Dr. Josef Weidenholzer Vorsitzender des Vereins Museum Arbeitswelt im August 1989 7

usammen mit der ln,d ustrialisierung des 19.Jahrhundertshaben sich auch in der ländlichen Arbeitswelt tiefgreifende Änderungen vollzogen. Der Bauer wurde durch die modernen Verkehrsmittel endgültig in die internationalen Märkte eingebunden: Abwanderung und Verschuldung waren die Folgen. Daß sich das Bewußtsein dieses Wandels nur langsam verbreitete, hatte besonders mit der Kirche und der Schule zu tun: Beide waren Garanten der Tradition und der althergebrachten Verhältnisse (Volksschule Paß Thurn, Salzburg, 1913). 8 Land in1 Wandel - Das langsan1e Ende der Vergangenheit

Bäuerliche Arbeitswelt - undenkbar ohne dieArbeit der Frauen: Sie trugen, keineswegs unsichtbar wie die „Nur-Ehefrau" im Haushalt der bürgerlichen Familie, deutlich zum Überleben des Betriebes bei - zum Beispiel bei der mühsamen Arbeit des Kornschneidens mit der Sichel und beim Aufstellen der „Kornmanäel" (Saalfeldner Becken im Mittelpinzgau, vor 1914). An der Oberfläche blieb lange Zeit scheinbar vieles beimalten- bis in dieMitte unseres Jahrhunderts. Eine brüchige Idylle: Bauern beim Eggen (Saalfeldner Becken im Mittelpinzgau in Salzburg, vor 1914). 9

In derWirtschaftskrise der dreißiger Jahre kehren viele aus Not in die Landwirtschaft zurück - meist als Hilfskräfte auf fremdem Boden. Der freilich bleibt karg: In der großen Krise gibt es nicht einmal für die Landwirtschaft eine kleine Konjunktur (Pflügen am Seilsitzberg bei Hüttschlag in Salzburg). Daß die Krise der Landwirtschaft nur ganz allmählich zu politischen Konsequenzen führte - nämlich zu einer Auflösung des konservativen Milieus - , hat mit gemeinschaftsbildenden Lebensformen am Land zu tun: etwa der „gemeinsamen Schüssel", wie beim Rauriser Schütt-Bauern in der Zwischenkriegszeit, wo Angehörige der Bauernfamilie und Dienstboten gemeinsam beim Essen sitzen. 10

Die Bergbauern waren vom wirtschaftlichen Wandel am schnellsten und nachhaltigstenbetroffen: Wo aus ökonomischen oder technischenGründen weder tierische noch maschinelle Zugkraft einsetzbar war oder wo Arbeitskräfte knapp sind - nicht nur, wie hier im Bild, während des Zweiten Weltkriegs (1943) -, dort ziehen Frauen den Pflug, der von einem alten Mann geführt wird (in J uns bei Tux im hinteren Zillertal) . 11

Ein archaisches Bild, das die Jahrhunderte bis in die 1940er Jahre überdauert hat: Ackern mit dem Ochsengespann und anschließende Aussaat, zum Beispiel im oberösterreichischen Mühlviertel. Ein Beleg für ungebrochene Tradition? Diese Tradition freilich ist oft eine Erfindung. Wo man spürt, daß es mit dem Bauerntum zu Ende geht, dort wird es für den Fremdenverkehr und für das Bewußtsein der Bevölkerung neu inszeniert. Etwa auf dieser gestellten Postkarte einer Heuernte imBregenzerwald (V orarlberg), wo schon um die Jahrhundertwende die harte landwirtschaftliche Arbeit zum idyllischen Auftritt einer Trachtengruppe wird. 12

Harald Walser ,,Lieber n1it Hindernissen Jahre kän1 pf en und dann ... " Reformansätze im Bregenzerwald zur Zeit Franz Michael Felders (1839- 1869) Ende April 1844 wurde in der kleinen Vorarlberger Bauerngemeinde Sulzberg im.Bregenzerwald der Schreiner Joseph Anton Huber verhaftet. Huber war erst wenige Wochen zuvor von der Walz zurückgekehrt und wurde von einem Spitzel angezeigt: Er habe in der Schweiz an Veranstaltungen kommunistischer Vereine teilgenommen. Bei einer Hausdurchsuchung wurden dann tatsächlich etliche „aufrührerische Schriften" gefunden: der „kleine Katechismus der Sozialreform", Eintrittskarten für die volkstümlichen Gewerbevereine in Lausanne, Genf und Yverdon sowie deren Statuten, ein Exemplar von Wilhelm Weitlings Blatt „Die junge Generation". Besonders bedenklich aber erschien den Behörden ein Brief Hubers an seinen Vater, denn dieser enthalte „ein treues Bild communistischer Grundsätze".1 Diese behördlichen Recherchen wären nicht weiter erwähnenswert, gäbe es da nicht eine Reihe zusätzlicher Indizien dafür, daß sich im Bregenzerwald in der Mitte des vorigen Jahrhunderts etliche Aufklärer und Sozialreformer bis hin zu Sozialisten befanden. Und das ist ein erstaunlicher Befund für die doch eher abgelegene Gebirgsregion. Diese den modernen sozialen und politischen Strömungen offen gegenüberstehenden Menschen waren zudem keine ,,Zugewanderten", sondern durchwegs Einheimische. Wie konnte es in der von der Landwirtschaft dominierten Gesellschaft des Bregenzerwaldes, wo es praktisch kein Proletariat gab, dazu kommen? D ie Abgeschiedenheit der Täler und die Macht des Überlieferten haben reformerisches Handeln in bäuerlichen Gegenden nicht verhindert. Im Gegenteil: Die soziale und wirtschaftliche Krise des Bauerntums wurde durchaus wahrgenommen, und es entstanden in Theorie und Praxis Gegenstrategien: aufklärerisches Denken, Genossenschaftsgründungen, politische Bewegung. Das war ein Prozeß, der ganze Dörfer an den Rand der Spaltung bringen konnte - wie die Berggemeinde Schoppernau im Bregenzerwald (Vorarlberg), den Heimatort des Bauern, Dichters und Sozialreformers Franz Michael Felder. 13

Im Jahre 1884 schrieb der Franzose Jules Gourdault nach einem Besuch im Bregenzerwald: „Jene, die keinen Platz an der Sonne haben oder für die es keinen Platz in der Herberge gibt, sind deshalb nicht in Verlegenheit. Leichten Fußes wandern sie aus, die Mehrzahl als Gipser (Stukkateure), andere wieder als Holzarbeiter. . .. Die Frauen sticken gern Vorhänge aus feinem Nesseltuch. Die Region hat keine echten Fabriken, aber in zahllosen Häusern, selbst in einfachen Hütten im ga nzen Bregenzerwald entdeckt man Handarbeiten, Stickrahmen, wie im Schweizer Kanton Appenzell. "2 Die Idylle war ein Trugbild des Reisenden: Die Armut war allgegenwärtig. Die Frauen stickten in den meisten Fällen nicht „gern", sondern aus Not. Die Männer wanderten in der Mehrzahl nicht „leichten Fußes", sondern oft schweren Herzens. Gerade in der Mitte des 19. Jahrhunder ts waren Nebenerwerbsmöglichkeiten nur mehr beschränkt vorhanden, da mit der Mechanisierung der Spinnereien und später der Webereien das textile Heimgewerbe verdrängt wurde. Der Bettel nahm im Tal immer mehr zu, sodaß sich einzelne Gemeindevorstehungen beziehungsweise die Pfarreien in großen Schwierigkeiten befanden. Im Jahre 1860 schreibt beispielsweise Aloys Stockmayr, der Pfarrer von Schoppernau, in seiner Pfarrchronik: ,,Dieses Jahr zeichnete sich besonders durch die vielen Gassenbettler, namentlich Handwerksburschen, Vagabunden etc. aus; an manchen Tagen kommen mehr als 20 Bettler zur Pfarrtüre, im Durchschnitt kann ich annehmen täglich 5."3 Reformbestrebungen - 11Partei der Gleichberechtigung" In dieser Situation gärte es unter der armen Bevölkerung, aber auch etliche Wohlhabende sahen sich zu Reformvorschlägen veranlaßt. Zu ihnen gehörte der Lithograph und spätere Landtagsabgeordnete der Liberalen Josef Feuerstein. Sein Vater hatte die größte Tabakproduktion in Vorarlberg betrieben und seinem Sohn ein bedeutendes Vermögen hinterlassen. Feuerstein beerbte zudem seinen Onkel Franz Xaver Feuerstein und erhielt so eine Steindruckerei in Bregenz. 1858 heiratete er die Tochter des vermögenden Landrichters von Bezau, dem Hauptort des Bregenzerwaldes. Er machte deren Elternhaus, den „Gasthof zur Sonne", zum Mittelpunkt der Intellektuellen und Reformer des Tales.4 Vermutlich über Vermittlung des Bezauer Gemeindearztes Dr. Gallus Greber kam Feuerstein mit dem Bauern und Dichter Franz Michael Felder aus Schoppernau, am Ende des Bregenzerwaldes, und dessen Schwager Kaspar Moosbrugger in Kontakt. Es entwickelte sich eine persön14 liehe und politische Freundschaft, die allerdings auch von erheblichen inhaltlichen Differenzen geprägt war. Zum einen konnte und wollte Feuerstein den „antikirchlichen" Vorstellungen Felders und vor allem Moosbruggers nicht folgen.5 Feuerstein war von seiner Herkunft und von seiner ökonomischen Stellung her, aber auch als „Realpolitiker" - Bürgermeister von Bezau und liberaler Landtagsabgeordneter - in der Kirchenfrage wesentlich konzilianter. Zum andern unterschied sich Feuerstein von seinen Mitstreitern in der Beurteilung der „sozialen Frage" und deren Lösung. Während Felder auf der Linie des deutschen Sozialistenführers Lassalle wirkte, den er als „meinen Mann" bezeichnete und dessen theoretische Auseinandersetzungen er genau verfolgte6 , vertrat Feuerstein eher bürgerlich-liberale Vorstellungen und mahnte zur Vorsicht. So in einem Brief vom 7. August 1866: „Wäre des nicht besser gethan, wenn man nach dem Beispiele der Pionire zuers t im kleinen u. sicher vorgehen würde. Wem1 man Consum Vereine gründen würde aber vorerst ganz im kleinen d. h. nur mit ein paar Gegenständen z. B. Salz, Kaffee, Gerste. Welch eine Menge Salz bedarf der Bregenzerwald, u. wie werden die Bauern übervortheilt, oft bei einem einzigen Sake um zwei Gulden! . . . Der Consum Verein wäre für das Volk eine Schule genoßenschaftlichen Strebens und man könnte so nach u. nach auf schwirigere Unternehmungen wie der Käsehand! ung übergehen. ,q Felder hatte für solche Konsumgenossenschaften nur Spott übrig: Er wollte das Volk „rührig" wissen und nicht zum ,,sparenden Philister" erziehen: ,,Lieber mit Hindernissen Jahre kämpfen und dann etwas tüchtiges, zeitgemäßes, als mit kleinen Vereinen, die dem Meinen sicher von selbst fo lgen wie der Troß dem Fürstenwagen, die besten Kräfte im Land zersplittern und entzweien ." Felder wies in seinem mehrseitigen Antwortschreiben vom 10. August 1866 auch auf die systemstabilisierende Kraft solcher „Philistervereine" hin, wie sie vom deutschen Ökonomen Schulze-Delitzsch propagiert worden waren und wie sie auch von Feuerstein vertreten wurden: ,,Da stand Schulze auf und predigte vom Sparen, vom im kleinen anfangen, von Consum und Vorschußvereinen. So wurde die Angst der deutschen Geldsäcke glücklich zers treu t. Dankbar dafür schenkten sie Herrn Schulze von Delitzsch 45.000 Thaler, wofür er nun wirken muß ."8 Im hintersten Teil des Bregenzerwaldes traten also mit Felder und Moosbrugger Männer auf, welche die theoretischen Auseinandersetzungen über die Lösung der „sozialen Frage" verfolgten und selbst Partei ergriffen. Nicht nur das: Felder, Moosbrugger und Feuerstein gründeten

schließlich sogar die ers te Partei auf dem Gebiet der damaligen Monarchie, die sich ausdrücklich als Par tei der arbeitenden Bevölkerung vers tand - die 11 Vorarlbergische Partei der Gleichberechtigung". Die Bezeichnung 11 Partei" stand allerdings in keinem Verhältnis zur Zahl der Mitglieder. Dennoch hofften die drei Männer, ihre 11 Partei" werde über kurz oder lang die stärkste des Landes.9 Wenden wir uns kurz den programmatischen Vors tellungen Felders und Moosbruggers zu : „Gleichheit der Menschen is t das Princip unserer gesammten Kultur. Gleichheit des Rechts ist nur eine Consequenz desselben. Es is t daher ein ehrenhafter Zug unserer Zeit, Gleichberechtigung für Alle kräfti g anzus treben, d ie unter Ei nern Rechtszus tand (in Einern Staa t) zusammenleben . . ." Diese aufrührerisch anmutenden Wor te schrieb Kaspar Moosbrugger in der programmatischen Schrift der Partei 11Ruf aus Vorarlberg uni Gleichberechtigung"10 . Eine Konsequenz d araus war für Moosbrugger die Forderung nach 11Associationen der Arbeiter zu eigenen Unternehmungen (Produktiv-Associationen)", deren Gründung vom Staa t zu unterstützen sei .11 Wie konnten solche Gedanken in einem. abgeschlossenen, bäuerlich geprägten Tal entstehen? Felder, Moosbrugger und mit ihnen etliche andere Bewohner des Bregenzerwaldes wurden nicht zuletz t durch die vielen 11 Fremdler", wie man die saisonalen Auswanderer nannte, mit der 11sozialen Frage" und den modernen sozialreformerischen Ideen bekanntgemacht. So finden sich im Nachlaß Felders viele 11 Fremdlerbriefe", 12 wie jener Josef Natters aus Geneuille vom 1. Juli 1866. Natter beschreibt darin die Wohnsituation der Arbei terinnen und Arbeiter - und zieht politische Konsequenzen: ,, Bei uns wü rde man Bedauern mit Ziegen oder Schweinen haben, die man in solche Ställe hinein thun müßte. Doch Du weiß t das gut genug, aber man muß es gesehen haben, ehe man sich eine richtige Vorstellung davon machen kann. Wenigs tens auf mich ha t dieser Anblick einen viel s tärkeren Eindruck gemacht, al s alle s tatistischen Zahlen. Doch zeigen diese doch d ie fürchterliche Menge an, die in solchen Zuständ en lebt. Da thut Abhilfe wahrlich noth u. jeder Mensch mit gesundem Verstand soll denen danken, di e sich bemühen, di esem Übelstand e abzuhelfen, u . das Seinige dazu beitragen. Ich habe aufs Neue den Vorsa tz gemacht, für d ie Grundsä tze unseres verehr ten u. leider zu fr üh verblichenen Meisters zu leben und zu sterben. Eben darum freut 's mich so, daß di e Wälder noch zur rechten Zeit dem Übel zu steuern anfangen . . ."13 Der 11 Meis ter " war niemand anderer als Ferdinand Lassalle, und die Freude Natters über die 11Steuerung" des Übels im Bregenzerwald bezieht sich auf Felders Idee einer Käsegenossenschaft. Damit wären wir bei der dritten Antwort - neben d er frühkommunistischen und der liberalbürgerlichen - auf die soziale Frage im Bregenzerwald: der hauptsächlich an Lassalle orientierten Genossenschaftsidee. Diese Idee unterschied sich prinzipiell von den Vorstellungen des Liberalen Josef Feuers tein. Der Käsehandel wurde damals vom Gemeindevors teher von Schnepfau, dem Adlerwirt Gallus Moosbrugger, und seinen Brüdern beherrscht. Er besaß die größte Käsehandlung Vorarlbergs und unterhielt Geschäftsbeziehungen vor allem nach Mailand. Gallus Moosbrugger beherrschte zugleich den Impor t aller wesentlichen Güter in den Bregenzerwald und hatte somit praktisch ein Impor t- und Exportmonopol errichtet.14 Das sollte durch die Gründung von Genossenschaften gebrochen werden . Felder und Kaspar Moosbrugger wollten mit ihren 11 Productions-Genossenschaften" auch das Bewußtsein der Bauern verändern. Im November 1866 verschickten sie ihre Programmbroschüre an alle Landtagsabgeordneten und Gemeindevors teher Vorarlbergs . Anfang 1867 ließ Moosbrugger anonym seine Schrift 11Klarstellung der Vorarlbergschen Partei der Gleichberechtigung" erscheinen . Von ihr meinte der Bregenzer Polizeikommissär Johann Hammer: „Diese Klarstellung ist rein nur den Schr iften und Tendenzen der Roth-Republikaner Lasalle und Proudhon entnommen und daher dem Ge iste unseres Vora rlberger Volkes verd erblich, wiewohl ich anderseits die feste Überzeugung mir auszusprechen getraue, daß in der großen Maße desselben d iese Tendenz-Druckschrift gewiß keine güns tige Aufnahme findet. "15 Die beiden Schriften Moosbruggers führ ten - da ha tte Hammer recht - zu keinen größeren positiven organisatorischen Konsequenzen für d ie 11 Partei". Doch immerhin gab es Diskussionen: Während das katholisch-konserva tive 11Vorarlberger Volksblatt " die Schriften mit Spott und Hohn übergoß, 16 sah die liberale 11Feldkircher Zeitung" durchaus Gemeinsamkeiten und hielt 11 eine gegenseitige Vers tändigung über die anzustrebenden Ziele nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar durch die Sache selbst begründet ... "17 „Die Fackel des Aufruhrs . .. in diese Gemeinde getragen" Im Bregenzerwald selbst gingen die Wogen hoch: Die Geistlichkeit predig te in einer bislang nicht gekannten Aggressivitä t gegen Felder und Moosbrugger. Auch der liberale Landtagsabgeordnete und Or tsvorsteher von Bezau Josef Feuerstein mußte sich von der Kanzel herunter die kleri15

kale Gegenpropaganda anhören. Die von Felder gegründete und öffentlich zugängliche Bibliothek wurde von „Experten" auf ihre „Tendenz" untersucht, und über Felder selbst verbreitete der Pfarrer von Schoppernau, Johann Georg Rüscher, er verleihe „Hurenbücher".18 Insbesondere die Kapuziner stellten sich in den Dienst der „frommen Sache", warnten öffentlich vor Felders Schriften und übten solange Druck auf die Frau Josef Feuersteins aus, bis dieser den Druck von Felders neuestem Werk „Gespräche des Lehrers Magerhuber mit seinem Vetter Michel" einstellte. Der Konflikt eskalierte soweit, daß Felder sogar tätlich angegriffen wurde. Pfarrer Rüscher war nicht zum Einlenken bereit und verbreitete weitere Lügen über den Dichter und Sozialreformer. Am 7. Mai 1867 mußte Felder schließlich mit seiner Frau aus Schoppernau über das Faschinajoch nach Bludenz zu seinem Schwager Kaspar Moosbrugger fliehen . Daraufhin bekannte sich Moosbrugger öffentlich zu seiner Schrift und bat „alle Eiferer", ihn „zu packen" und „dem bisher wild verfolgten Dichter Satisfaction zu leisten".19 Noch im Mai zeigte Felder Pfarrer Rüscher wegen Ehrenbeleidigung und Bedrohung der persönlichen Sicherheit an und kehrte dann - nachdem die Behörden seine persönliche Sicherheit garantiert hatten - nach Schoppernau zurück. Von Au bis nach Schoppernau wurde er von der Auer Blasmusik begleitet.20 Felders Position wurde gestärkt. Die Anzeige gegen Rüscher hatte er zwar zurückziehen müssen, politisch aber gab es etliche Erfolge: Ein Käseverein, ein Handwerkerverein samt der Leihbibliothek und ein Viehversicherungsverein florierten und fanden in wachsender Zahl Mitglieder. Im Zuge der Gemeinderatswahlen in Schoppernau eskalierte der Konflikt erneut: Felder und sein Vetter, der Uhrenmacher und ehemalige „Fremdler " Johann Josef Felder, wurden in einem Gasthaus von Anhängern des Pfarrers tätlich angegriffen. Am Wahltag bedrohten die mit Prügeln bewaffneten Anhänger des Pfarrers die Wahlkommission, sodaß Felder die Wahl anfocht und vor Gericht Recht bekam. Unter großen Sicherheitsvorkehrungen gewann dann die 11Felder-Partei" die Wiederholungswahl, worauf der Pfarrer verkünden ließ, dreihundert der fünfhundert Schoppernauer seien freimaurerisch.21 Doch die politischen Weichen waren nicht so gestellt, wie Felder und Moosbrugger das gehofft hatten: Das ehemals liberale Vorarlberg wurde „schwarz". Die KasinoBewegung und das übrige katholische Vereinswesen, eine politisierte Geistlichkeit und das„Vorarlberger Volksblatt" als publizistisches Organ bewirkten diese Veränderung der politischen Situation.22 16 Fortschrittliche Reformansätze wie jene Felders und Moosbruggers wurden geächtet. Der Bauernstand geriet zunehmend in die Defensive und in das Schlepptau der Christlich-Konservativen. Die Arbeiterbewegung hingegen orientierte sich in den folgenden Jahrzehnten am Programm von Karl Marx und Friedrich Engels und verwarf zunehmend die Vorstellungen Lassalles: „Felder war der letzte gewesen, der sich die Solidarität von Agrikultur und Industrie zu weiter, allseits segensreicher Entwicklung ha tte vorstellen können. "23 Der politische Katholizismus wollte mit den Bregenzerwälder Reformern selbst über deren Tod hinaus nichts zu tun haben. Noch 20 Jahre nach dem frühen Tod Felders, der - im Alter von nicht einmal 30 Jahren - 1869 verstorben war, mußte eine Feier zu dessen 60. Geburtstag vom Heimatort Schoppernau in die Nachbargemeinde Au verlegt werden. Schon 1875 hatte der Schoppernauer Pfarrer Georg Rüscher die Aufstellung eines Felder-Denkmales auf dem Friedhof untersagt. Das Denkmal war daraufhin gegen den Willen des Pfarrers an der Friedhofsmauer - in der Nähe von Felders Grab - aufgestellt worden. Nun, am 1. September 1889, war es der nicht minder fanatische Nachfolger Rüschers, Pfarrer Josef Gschließer, der eine Gedenkfeier verhinderte. Rüscher damals in seiner Predigt in der Pfarrkirche wörtlich: „Ein Mann is t aufgestanden, der in unverschämter Frechheit es wagte, seinen Seelsorger mit Wort und Schrift zu verhöhnen und sich als Richter über ihn aufzuwerfen. - Gott hat ihn abberufen aus diesem Leben, er hat ihm bei Gerichte ohne Zweifel die Frage gestellt, warum er sich so frech hinausgesetzt habe über die Warnung ,rühre mir meinen Gesalbten ni cht an'. - Allein sein Geist lebt fort in seinen Gesinnungsgenossen . . . . Jenes Denkmal draußen auf dem Friedhofe, das eine das Gesetz verachtende Rotte gegen die geistliche Obrigkeit gese tzt hat, es überliefert den unseligen Namen des Mannes, der die Fackel des Aufruhrs gegen die Seelsorger in diese Gemeinde getragen hat. "24 Auch Felders Mitstreitern Moosbrugger und Feuerstein erging es nicht besser. In das Sterbebuch von Bezau trug der dortige Pfarrer hinter den Namen des im Dezember 1903 verstorbenen ehemaligen Gemeindevorstehers und liberalen Landtagsabgeordneten Josef Feuerstein, der zeitlebens praktizierender Katholik gewesen war, ,,Sozialdemokrat" ein.25 Anmerkungen 1 Tiro ler Landesa rchiv, Gub . Präsidial e ad No. 2892-78 II aus 1844; z it. n. Oberkofler, Gerhard: Anfänge - Di e Vorarlberger Arbeiterbewegung bis 1890, in: Greussing, Kurt (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung. Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870-1946. Bregenz 1984, S. 22-72, hi er S. 34. Gourdau lt, Jea n: Sommertage im Bregenzerwald, in: Bregenzerwäl-

der Reisebilder des 19. Jahrhund erts. Beiheft des Franz-Michael-Feld er-Vereins 3. Bregenz 1979, S. 20-30, hier S. 26. 3 Zit. n. Me thl agl, Wa lter: Die Entstehung von Fra nz Michael FeJders Roman „Reich und Arm ", Habilitationsschri ft Un iv. Innsbruck 1977, s. 83. ' Siehe Meusburger, Will1elm: Zwei Bregenzerwä lder Lithographen d es ] 9. Ja hrhu nderts, in: Biblos, Jg. 35 (1986), II, S. 160-173. Siehe den Briefwechsel Feuersteins mit Fe lder, in: Felder, Franz Michael: Briefwechsel 1856-1869, 1. Teil, hrsg. von Wa lter MethJagl. Brege nz 1981, z.B. S. 215 und S. 278 ff. 6 Ebd ., S. 215. 7 Ebd., S. 214. 8 Ebd.,S.218. 9 Vgl. Methlagl (wie Anm. 3), S. 161 ff. 10 Z it. n. Fra nz Michael Felder - Kaspar Moosbrugger: Briefwechsel. Kommentar. Anmerku ngen, Dokumente, Personen-, Werk- und Sachregister von Walter Methlagl. Bregenz 1975, S. 325 f. 11 Ebd ., S. 336. 12 Siehe Me thlagl (wie Anm. 3), S. 75 ff. ' 3 Feld er (wie Anm. 5), S. 203. " Vg l. Methl agl (wie A1m1 . 3), S. 67 ff. 15 Bericht Hammers vom 24.2.1867; zi t. n. Feld er - Moosbrugger (wie Anm. 10), S. 363 f. Pierre Joseph Proudhon (1809-"1865) war ein rad ikaler französischer Publizis t, Soziologe und Ökonom und begründete theo re tisch eine Form des Anarchismus. Ferd inand von Lassa ll e 0 825-1864) war einer d er Gegenspieler von Ka rl Marx. Er wa r Initiator u nd Mitbegründer d es All gemeinen Deutschen Arbei tervereins (1863) und Vertreter einer sozialreform is ti schen Lini e. "' ,, Vorarlberger Volksblatt", 16.1 1.1866 und 28.5.1867, in: Felder - Moosbrugger (wi e Anm. 10), S. 338 f und 368 f. 17 „Fe ldkircher Zei tung", 17.11 .1866, zit. n. Feld er - Moosbrugger (wie Anm. 10), S. 339. 18 Vgl. Me thlagl (wie Anm. 3), S. 167. 19 „Feldkircher Zeitung", 15.5.1867, zit. n. Felder - Moosbrugger (wie Anm. 10), S. 365. 20 Vgl. Meth lagl (wie Anm. 3), S. 175. 21 Vgl. Meth lagl, Walter: Der Traum des Bauern Franz Michael Felder. Bregenz 1984, S. 97 ff. 22 Vgl. Haffner, Leo: Die Kas ine r. Vora rlbergs Weg in den Konservativismus. Bregenz 1977, S. 26; Barnay, Markus : Di e Erfindung des Vora rl bergers. Ethnizitätsbi ldung und Landesbewu ßtsein im 19. und 20. Jahrhundert. Bregenz 1988, S. 202 ff. " Methlagl (wie Anm. 21), S. 115. " Zit. n. Methlagl (wie Anm. 21), S. 5. 25 Siehe Meusburger (wie Anm. 4), S. 172. Franz Michael Felder (1839-1869), Aufnahme im Jahr 1867. 17

L andleben - das heißt nicht nur Landwirtschaft. Selbst Bauern führten oft eine Doppelexistenz als Landwirte und Arbeiter in Gewerben mit oft langer Tradition: Beschäftigte eines Metallbetriebs (Schleiferei) in Neuzeug bei Steyr/Oberösterreich, um 1910. 18 Baustellen als Bruchstellen Bahnen der Hoffnung

1 Gleichzeitig entwickelten sich, infolge von Bahnbau, Industrialisierung und Wachstum der Städte, im ländlichen Milieu neue Schichten von abhängig Erwerbstätigen, die freilich noch oft mit einem Fuß in der Landwirtschaft standen: etwa Ziegelarbeiterinnen und Ziegelarbeiter (ZiegeleiWaha im salzburgischen Bürmoos, Anfang der dreißiger Jahre). Und „die Fremden" kamen-alsMaurerund Bauhilfsarbeiter, als Bahnarbeiter und Erdarbeiter. Sie stammten aus den armen Randgebieten der Monarchie, etwa aus dem Trentino (ItalienischTirol), wie wahrscheinlich zum Teil diese Bauarbeiter in Kufstein um 1900. 19

Durch den Bahnbau wurden gewaltige Menschenmassen in Bewegung gesetzt, vor allem aus den tschechisch- und aus den italienischsprachigen Teilen der Monarchie. Kaum eine Bahnbaustelle ohne tschechische oder italienische Arbeiter. Die Photographen freilich waren anfänglich weniger von den arbeitenden Menschen fasziniert als von der Technik und den Leistungen der Ingenieure, die ganze Landschaften in Bewegung setzten: Ausbau der Schickkurve inOberndorf, Salzburg, um 1905. Durch den Bahnbau ist in die ländlichen Gebiete Österreichs eine Schneise geschlagen worden, die die alten Verhältnisse teilweise gründlich erschüttert, teilweise aber auch harten Widerstand gegen das Neue herausgefordert hat (rechts: Tunnelbau bei der Tauernbahn Böckstein-Mallnitz, ungefähr 1907). Für die einen waren das Bahnen der Hoffnung, die zu besseren, gerechteren, solidarischeren Verhältnissen führen würden; für viele andere bedeutete die Bahn Gefahr: so beim Vorhaben einer Bahn für das Bregenzerwaldtal, wo die Konservativen schon den deutschen Sozialistenführer August Bebe! auf dem Vormarsch sahen. 20 Bebel und die Wälderbahn Das „große"Werk der Wälderbahn , Das schreitet rüstig jetzt voran ; Zwar will ich nicht polemis ieren Und nicht im Mind'sten kritisieren Der Dampfroßfreunde guten Glauben; Doch eine Frage mir erlauben: Vor kurzem war in manchen Blättern Zu lesen mit gesperrten Lettern Ein Ausspruch des „berühmten" Bebel ,,Das Dampfroß ist für uns ein Hebe l, Mit dessen Hi lf' es uns gelingt , Das uns're Sache vorwärts dringt. " Ihr Helden von der Wälderbahn Gefällt Euch dieser Spruch? Sagt an! ,,Vorarlberger Volksb latt", 1. November 1895

Oberbaupartie bei der Errichtung der Lokalbahns trecke Salzburg-LamprechtshausenimDezember 1920: Durch den Bahnbau vollzogen sich in den Dörfern und Kleinstädten Österreichs dramatische Wendungen: sozial, politisch, kulturell. Sozial, weil mit Eisenbahnern und Bahnarbeitern eine neue Berufsgruppe auftrat. Politisch, weil die Eisenbahner vielfach sozialdemokratisch organisiert waren. Kulturell, weil die Menschenmobilerwurden und sich alte Bindw1gen an die konservative Kultur zu lösen begannen. Großbaustellen waren in den ländlichen Regionen Österreichs immer auch Bruchstellen der alten Verhältnisse: Arbeiter beim Kraftwerksbau Steyrdurchbruch, Oberösterreich, 1907, und zugewanderte Bauarbeiter beim Fabriksbau der Firma F. M. Hämmerle in Dornbirn (Vorarlberg). 21

D ie neuen Großbauten ließen auch die Existenz der Bauern nicht unberührt. Viele verdingten sich als Saisonarbeiter und wanderten zu diesem Zweck oft über Monate hinweg aus ihrer engeren Heimat aus. Die Erfahrungen dieser prekären Doppelexistenz als Bauer und Arbeiter prägten um die Jahrhundertwende auch das Denken eines Mannes aus Kitzbühel, der als ,,roter Bauerphilosoph" nicht nur lokalen Ruf erlangte. 22 Wolfgang Meixner ,, .. .daß es keine dün1n1ere Phrase gibt, als zu sagen, es vVar in1n1er so'' Johann Filzer - Sozialistische Bauernagitation in Tirol und Vorarlberg um 19001 Johann Maximilian Filzer wurde am 16. Oktober 1858 in Griesenau bei Kitzbühel als Sohn des Kleinbauern Johann Filzer und der Maria Filzer, uneheliche Tochter der Maria Obergarleitner, geboren. Sein Geburtsjahr fiel in eine Zeit grundlegender struktureller Veränderungen der Tiroler Wirtschaft. Die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie des Landes - zwischen Innsbruck und Kufstein - im Jahre 1858 brachte den Niedergang des Fuhrgewerbes und der davon abhängigen Zulieferhandwerke. Die auf regionalen Märkten gehandelten heimischen landwirtschaftlichen Produkte erhielten Konkurrenz von Waren, die nun mit dem neuen Transportmittel billiger ins Land kamen. Von all dem spürte Johann Filzer in seinen ersten Lebensjahren wenig. Wie im ländlichen Raum üblich, behandelte ihn sein Vater als zukünftigen Hoferben und wollte ihn zum „echten Bauern heranwachsen sehen.... so mußte der junge Hans mit fünf bis sechs Jahren Ziegenhirt, Wasserträger usw. sein".2 Nach sechseinhalb Jahren Schule arbeitete er als Gehilfe auf dem Hof seines Vaters, allerdings nur bis der nächstälteste Bruder herangewachsen war und Hans mit 17 Jahren eine Lehre als Zimmermann beginnen konnte. Ab 1878 unterbrach der Militärdienst, den er in Bosnien abdiente, seinen beruflichen Werdegang.

Danach war Johann Filzer in Tirol und Salzburg als Zimmermann tätig und wurde um 1884 auch Meister; 1885 übernahm er die väterliche Landwirtschaft. Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts waren in Tirol noch immer zwei Drittel der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft tätig. Es gab keine nennenswerte Industrie. Bauer zu sein bedeutete in Tirol vorwiegend, in einem Klein- oder Mittelbetrieb unter zehn Hektar zu wirtschaften, wobei die „Selbstausbeutung" der eigenen Familienmitglieder - der weichenden Geschwister und Kinder - den wirtschaftlichen Zusammenbruch verhindern sollte. Zahlreiche Anwesen waren hoch verschuldet - allein 1895 wurden in Tirol 1400 Höfe versteigert. Ein beträchtlicher Teil der ländlichen Bevölkerung war somit zur Abwanderung gezwungen und versuchte in anderen Branchen und Regionen Arbeit zu bekommen. Dieses Schicksal sollte auch Hans Filzer ein Leben lang begleiten - immer wieder mußte er zwischen einer Existenz als Bauer und als unselbständiger Arbeiter pendeln. Johann Filzer begann schon in seiner Jugend, intensiv Bücher und Schriften zu lesen . Dabei eignete er sich nicht nur ein umfangreiches naturwissenschaftliches Wissen an - vor allem in Astronomie und Gesteinskunde - , sondern er interessierte sich auch für soziale Probleme. Der Inhalt der Werke von Marx, Engels und Lassalle wurde ihm durch die Veröffentlichungen Kautskys zugänglich. Die Ideen dieser Denker sollten ihn zeitlebens nicht mehr loslassen. Filzer gehörte somit zur Gruppe jener „Bauernphilosophen " - ähnlich dem Vorarlberger Franz Michael Felder oder dem Oberösterreicher Konrad Deubler - , die sich, entgegen landläufigen Klischees vom „dummen Landvolk", autodidaktisch Bildung und Wissen anzueignen vermochten. ,,Schon als Geselle" - so der Wiener Dichter Alfons Petzold - ,, ha tte er viele Zeitungen und Bücher gelesen und sein beschränktes Wissen zu vertiefen gesucht. Nun als freier Bauer trachtete er ers t di e Lücken seiner Bildung auszufüllen. Die Arbeitspausen in den langen Kitzbüheler Wintern gaben ihm richtige Zeit dazu."3 Theoretiker, Agitator und Sozialreformer 1895 gab Filzer im Selbstverlag sein Buch „Anschauungen über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von ihrem Urzustande bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung des Bauernstandes" heraus.4 Filzer beginnt seine „Anschauungen" mit der Darlegung der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, in starker Anlehnung an die Arbeiten Morgans, Engels und Lafargues. Im Hauptteil beschäftig t er sich mit der Situation der Arbei ter, Kleingewerbetreibenden und Bauern im Zeitalter des Kapitalismus. In der daran anschließenden Diskussion der Lösungsvorschläge verwirft er sowohl die Ideen Schulze-Delitzschs - ,,Selbsthilfe" mi ttels Spar- und Darlehenskassen - als auch die Bestrebungen der Anarchisten, welche für ihn Ausdruck „blinden Klassenhasses und (der) Verirrung" (S. 131) einer fehlgeleiteten Gruppe von Menschen waren. Einzig in der organisierten Arbeiterbewegung sieht er eine Möglichkeit zur Überwindung der „bodenlos fehlerhaften Wirtschaftsordnung" (S. 135). Als ein wunder Punkt dieser Wirtschaftsordnung gilt ihm die „furchtbare Arbeitsverschwendung", die es mit sich bringe, daß „eine Unmasse von Waren erzeug t (wird), die keinen mit der Vernunft in Exis tenz zu bringenden Zweck erfüllen" (S. 135 f.). Zum Schluß geht er noch eigens auf die wirtschaftliche Krise des alpinen Kleinbauerntums ein. Deren Ursachen sieht er in den „primitiven Produktionsverfahren", welche zu „niedrigen" Arbeitsprodukten führen, in der Konkurrenz von Waren, die mittels der Eisenbahn billiger ins Land kämen und die Preise heimischer Produkte ins bodenlose sinken ließen, und im Umstand, daß „das Arbeitsprodukt des Landmannes zum Spielball des Großkapitals geworden" sei (S. 156). Filzer bedauert in seinem Buch besonders, daß dem „Landmann meistens tiefere Einsichten in die socialen Zustände fehlen" und er daher nur allzuoft die „Schuldigen" seines Niederganges am falschen Ort suche, indem er „den Juden zum Schuldträger" mache - für Filzer ein ,,geistiges Armutszeugnis" (S. 7) . Eine Änderung dieser Zustände erschien ihm - und hier war er in gewisser Weise „ethischer Sozialist" - nur durch die Hebung des Bildungsstandes der ländlichen Bevölkerung möglich: „Das einzig sichere Mittel, um eine wirkliche Besserung unserer Gesellschaftszus tände herbeizuführen, ist nur in einer höheren Bildung ... in einem umfassenden Wissen, auf möglichst viele Individuen vertheilt, zu suchen." Ansonsten, so seine Meinung, wären die bes ten Reformen vergebens. Die erforderlichen Mittel seien in den „Riesensummen, die heutzutage die barbarische Institution des Militärismus verschlingt", vorhanden.5 Schon zu seiner Gesellenzeit war Filzer „Funktionärsmulti " geworden; unter anderem bekleidete er das Amt des Obmannes der Gehilfen in der Handwerker-Genossenschaft, er war Vorsitzender in deren Krankenkasse, Mitbegründer der Kitzbüheler Sennereigenossenschaft und - ab 1893 - Leiter des dortigen Volksbildungsvereins. 1891 rief Filzer - zusammen mit anderen Bauern seiner Heimatstadt Kitzbühel - die „Raiffeisenkasse Kitzbühel23

Land" ins Leben, deren Obmann er bis 1898 war. Dies mag nicht ganz in Einklang mit seiner sozialis tischen Gesinnung gestanden sein - Filzer tra t 1894 der vier Jahre zuvor gegründeten Tiroler Sozialdemokratie bei6 -, en tsprachen doch die Vorstellungen Raiffeisens nicht der Absicht der Sozialisten lassallescher Richtung, durch selbstverwaltete Produktionsgenossenschaften die Gesellschaft umzugestalten. Johann Filzer war aber nie starrer Dogmatiker, sondern wich - um seine Vorhaben verwirklichen zu können - schon einmal von der „reinen Theorie" ab. ,,Große Politik" . . . Ab 1894 nahm Johann Filzer an Parteitagen der österreichischen Sozialdemokratie teil. Seine Wortmeldungen bezogen sich stets auf die Probleme der Agi tation im ländlichen Raum, da er es für notwendig hielt, ,, den Bauernstand aus den Klauen der Machthaber (zu) entreißen. "7 Am Linzer Parteitag von 1898 beispielsweise ging Filzer auf die Lage der ländlichen Bevölkerung ein, wobei er es als unmöglich ansah, ,, den Kleinbauernstand ganz in die proletarische Bewegung einzubeziehen11 • Denn die Bauern versuchten, solange sie Besi tzer seien, sich der „Macht des proletarischen Gedankens zu entziehen 11. Eine Zusammenarbeit von Sozialisten und Bauern schien ihm einzig dann möglich, wenn letztere erkennen würden, ,,daß sie nur mehr in der Einbildung Besitzende sind 11, und kein Interesse mehr an der „Erhaltung der gegenwär tigen Ordnung" hätten.8 1911, am Innsbrucker Parteitag, befaßte sich Filzer neuerlich mit der ländlichen Agitation. Unter dem Eindruck der zunehmenden Verteuerung der ländlichen Produktion und der wachsenden Verschuldung der Höfe bedauerte er, daß bis „weit hinauf in den ländlichen Mittelstand ... der Kampf ums Dasein von Jahr zu Jahr schwerer ,, werde. Die Ursachen dieser Krise sah er in der mangelnden Schulbildung der ländlichen Bevölkerung, im unzulänglichen Einsatz des technischen Fortschrittes in der landwirtschaftlichen Produktion sowie im Unverständnis der politisch Verantwortlichen für die Probleme der Bauern.9 Auch hier hob Filzer-wie bereits Jahre zuvor in seinem Buch - die Wichtigkeit der Vermittlung von Bildung und Wissen für die ländliche Bevölkerung hervor; dies zu leisten, sah er als eine Hauptaufgabe sozialistischer Aufklärungsarbeit an. ... und „kleine Welt" Filzers klassenkämpferische Töne der Par tei tagsreden stießen in der ländlichen Bevölkerung eher auf Ablehnung. Deshalb beschränkte er sich - bei seiner Agitationsarbei t 24 in Tirol und Vorarlberg - meistens darauf, politische Mitbeteiligung durch ein allgemeines Wahlrecht zu verlangen. Außerdem erwuchs den Sozialisten in den 1890er Jahren durch die Christlichsozialen eine ernsthafte Konkurrenz bei der Landagitation. Die Konservativen vers tanden es hervorragend, von den „Roten11 angesprochene Themen zu verdrehen: So gelang es dem Klerus - als die Sozia listen die Eigentumsfrage stellten-, die verunsicherten Kleinbauern glauben zu machen, die „Sozi11 würden ihnen den Hof wegnehmen. Ebenso bezichtigten die Christlichsozialen die Sozialdemokraten, wegen deren Losung „Religion is t Privatsache11 , der Gottlosigkeit. Nicht ohne Grund beklagte sich Filzer daher auf den Parteitagen über die Agi tationskonkurrenz von seiten der „Pfaffen", die die Sozialdemokra ten häufig als „Schandbauern11 schmähen würden .10 Johann Filzer sprach um die Jahrhundertwende auf zahlreichen Veranstaltungen der Sozialdemokraten. Am 16. Jänner 1898 trat er als Redner im Innsbrucker „Adambräu11 auf. Die Versammlung gal t dem Thema „Die politische Situa tion und d as Wahlrecht in den Landtag„ und hatte großen Zulauf. Über diese Veranstaltung berichteten mehrere Tiroler Zeitungen - so auch das „Tiroler Tagblat t11 , das Organ der libera len Partei, vom 18. Jänner 1898: „Der Bauer Filzer aus Ki tzbühel sprach zum ers ten Theil der Tagesordnung und beleuchtete in 2stündiger Rede, nach einem kurzen Rückblick auf die Entw icklung der capitalistischen Produktionsweise, dem dadurch entstandenen Massenelend, ausführlich die politische Lage, das Verhalten der gegenwärtigen Parteien zu einer gerechten Wahlreform in den Reichsrath und Landtag. Der Redner, welcher seine Ausführungen häufig mit dras tischen Beispielen würz te, erntete stürmischen Beifa ll. " 11 Sein agi tatorisches Vermögen beeindruckte auch so manchen gegnerischen Zeitungsredakteur. Anläßlich einer „sozia ldemokra tischen Versammlung11 , welche am 23. Jänner 1898 in Hall im Gas thaus „zum Neuwirth11 stattfand, hieß es im klerikalen „Unterinnthaler Boten11 : „Der ,Bauer ' Filzer von Ki tzbühel . . . sprach wohl durch mehr als 2 Stunden. Daß seine Rede sowohl sprachlich wie inhaltlich gleicher Weise unbedeutend und ni chtssagend war, hinder t uns nicht zu glauben, daß der Mann für die unteren Schichten des Volkes e twas Einnehmendes haben ka nn ."12 Bei diesen Veranstaltungen kam es immer wieder zu wortreichen Gefechten mit anwesenden Geistlichen, so auch auf der Volksversammlung vom 26. Feber 1899 in Wörgl, wo Filzer zum Thema „Christlichsozial und sozialdemokratisch" referierte. In seiner Rede sprach er der „kapitalistisch gewordenen„ Kirche - die „einstens eine Hoffnung der Armen und Unterdrückten war, heute (aber) vielfach

als Mittel zur Unterdrückung und Verdummung des Volkes mißbraucht" werde - jedes Recht auf 11Erlösung" der Arbeiterklasse ab . Weiters vertrat Filzer die Ansicht, daß „die heutigen Lehren der Kirche den echten Satzungen der Christuslehre nicht getreu geblieben sind", und versuchte dies anhand geschichtlicher Beispiele und Bibelzitate zu beweisen . Diese Aussagen erregten bei der chris tlichsozialen Zuhörerschaft Mißfallen. Daraufhin ergriff der eigens aus Hall angereiste Beneficia t Engel das Wort und wies Filzers Gedanken heftig zurück. Engel appellierte - in der Hoffnung, daß es im „glaubensstarken Tirol kein(en) Boden für die revolutionären Bestrebungen der Sozi" geben werde - vor allem an den „Patriotismus" der Zuhörer. Für die sozialistische ,,Volkszeitung" war allerdings Johann Filzer der Sieger dieses Wortduells: ,, . . . und wer Ohren ha tte zu hören und fä hig war zu denken, mußte überzeugt sein, daß der rothe Bauer aus Kitzbühel in Socialwissenschaften und in Anwendung geschichtlicher Ereignisse Herrn Engel weit über is t und daß d ie Behauptungen des Letzteren klar widerlegt, oder auf das richtige Maß zugeschnitten wu rden."13 Trotz seiner umfangreichen Agitationstä tigkei t gelang es Filzer nicht, in die oberste Führungsschicht der Tiroler Sozialdemokratie vorzustoßen. Anläßlich der „VIII. Landesconferenz der sozialdemokratischen Partei für Tirol und Vorarlberg", welche am 30. Oktober 1898 in Innsbruck stattfand, wurde er zwar ins Konferenzpräsidium, jedoch nicht in die Landesparteileitung gewählt.14 Ein Jahr später war Johann Filzer in Vorarlberg als Landesparteisekretär im Gespräch . Aber auch dieses Amt blieb ihm vorenthalten: Die dortigen Genossen sahen in ihm einen 11sympathischen ,Spinner ', dem man die Leitung der Organisa tion nicht anvertrauen wollte"15 . Johann Filzer als Arbeiter und Agitator in Vorarlberg In den 1890er Jahren arbeitete Johann Filzer zeitweise in Vorarlberg- zunächst beim Bau des Neuen Rheins, später in einer Zündholzfabrik-, versuchte aber auch, politisch tätig zu sein. Zwar geben die diversen Meldungen über Aktivitä ten des „Genossen Filzer ", dessen Vornamen sowohl mit „Josef" als auch mit „Johann" an, Titel und Inhalte der erwähnten Veranstaltungen lassen aber den Schluß zu, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt. So erwähnte das 11Vorarlberger Volksblatt " im Oktober 1898 - im Bericht von einer Versammlung, die in Hard bei Bregenz zum Thema „Lebensmittel-Vertheuerung und .. . Niedergang des Bauerns tandes und dessen Ursachen " stattgefunden ha tte - als Redner einen gewissen ,,Josef Filzer, gebürtig von Kirchdorf in Tirol, wohnhaft in I-Iard".16 Zwei Monate später führte dasselbe Bla tt, in einem Bericht über eine Volksversammlung in Hohenems am 6. Dezember, einen „Bauern aus Kitzbühl in Tirol, Namens Filzer," als Referenten an.17 Das „Vorarlberger Volksblatt" hob zwar stets den schwachen Besuch dieser Veranstaltungen sowie die Phrasenhaftigkeit der Ausführungen hervor, war sich aber über die Wirkung der Agitation Filzers auf die Bevölkerung doch nicht so ganz im klaren, sodaß es ihm sicherheitshalber immer wieder unmißverständliche Drohungen nachschickte: ,,Dem Filzer ra then wir daher in Güte, seine soziali stische Weisheit für sich zu behalten und in unseren Mauern in gebührender Bescheidenheit zu verharren. Denn tro tz seiner ,Weisheit ' imponi ert er der Bevölkerung von Hard absolut nicht. Sie braucht den Filzer gewiß nicht . Diese paa r Zeilen möge er sich bes tens zu Gemü the füh ren."18 Filzers politische Tätigkei t in Vorarlberg gipfelte in der Abfassung eines sozialistischen Programmes, welches anläßlich einer Bauernkonferenz am 16. April 1899 in Fußach am Bodensee beschlossen wurde. Der Inhalt dieses 11Fußacher Programms" lehnte sich an das Parteiprogramm der Sozialdemokra tischen Arbei terpartei Österreichs an . Es enthielt die Forderung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts, das Verlangen nach gerechter Steuerver teilung, wobei das Einkommen progressiv zu besteuern sei, sowie nach Abschaffung aller indirekten Steuern und Zölle auf lebensnotwend ige Güter. Ferner sollte der Staa t für eine ausreichende Invalidenund Altersversorgung, den obliga torischen, weltlichen und unentgeltlichen Volksschulunterricht sowie für eine unentgeltliche Rechtspflege und für kos tenlosen Rechtsbeistand bei Berufungen in Strafsachen sorgen . Verlang t wurde auch die Einführung der unentgeltlichen ärztlichen Hilfe, einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Das Programm schloß mit der Forderung nach Abrüstung des Heeres und Errichtung einer Volkswehr an dessen Stelle sowie mit dem Verlangen, alle Gesetze abzuschaffen, durch welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung eingeschränkt oder unterdrückt würden .19 Im - von Kirche und Christlichsozialen dominierten - „Ländle" konnte dieses Programm kaum Breitenw irkung erzielen . Immer wieder machte sich das "Vorarlberger Volksblatt" über den schwachen Besuch der sozialistischen Versammlungen und damit auch über deren geringe Bedeutung lustig. Zu einer Volksversammlung, die am 29. Mai 1899 in Höchst bei Bregenz im Gas thaus „Zum Schiff" stattgefunden ha tte, wußte das Bla tt sichtlich zu25

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