Der Kuckuck vom 17. Jänner 1932
Blick auf das Gebäude der ehemaligen Waffenfabrik W eltwütschaftskrise, Zusammenbruch des Kapitalismus - wie leicht schreibt man das hin; aber hinter diesen Worten lauert der Tod, nagt der Hunger, lungert die Arbeits– und Hoffnungslosigkeit. Die Flut des Kapitalismus hat uner– forschte Länder erschlossen, hat aus Feldern Städte gemacht. Nun ist die große Ebbe da. Die Fabrikschlote werden abge– lragen1 die Maschinen abmontiert, die leeren, sinnlosen Werk– stätten dem Ungeziefer überlassen. Aus dem laufenden Band ist ein leerlaufendes Band geworden. Und die Menschen? Und die Städte? S i e s t e r b e n. S i e s i n k e n d a h i n. Niemand slört ihre Agonie, niemand denkt an erste, nein, an letzte Hilfe! Es gibt eine schöne, alles entschuldigende Diagnose: Weltwirtschaftskrise. Die Stadt Steyr zäh1t 22.000 Einwohner. Mehr als die HäHle der Bewohner lebt heule von öffentlichen Unterstützungen! 1100 Menschen haben gar ke in Ein kommen. 90 . Prozent aller Kinder von Steyr sind unterernährt. Die Unterstützung, die Steyr seinen erwerbslosen Mitbürgern zahlen kann, schwankt um vierzig Grnschen. Aber auch dieser Groschen– scbatz wird zu Ende geben, wenn die Stadt nicht bald Hilfe findet; denn bei allergrößter Sparsamkeit kann Steyr mit seinen Einnahmen nicht mehr die dringendsten Sorgen decken. 957 .000 Schilling - f a s t e in e M i 11 i o n S c h i 11 i n g - fehlt in der Gemeindekasse, obwohl die Stadt Steyr keinen Groschen mehr für Reparaturen, für das Straßenwesen, für Bäder und Schulen ausgeben kann. Am 29. Dezember 1931 hat der Gemeinderat von Steyr in einer denkwürdigen Sitzung be– schlossen, die Tätigkeit der Gemeinde auf ein Minimum einzu– schränken: Nur die Schulen sollen vorläufig noch offen bleiben, die öffent1iche Beleuchtung, der rein behördliche Apparat ... Es ist ein langsames, qualvolles Sterben. Schon in den nächsten Tagen wird vie1leicht auch das Geld für das Schulwesen fehlen. Und dann? Und dann. . . Die Brücken von Steyr verfallen. Wer sollte sie reparieren? Die Häuser verfallen, man hält ihren Ruin nicht auf. Die Steine halten die Krise nicht durch, und die Menschen? Hunderte Kinder leben in Steyr, die als einzige ,,Nahrung" einmal am Tag eine Sc h a 1 e Tee bekommen. Hunderte Kinder, die keine eigene Schlafstelle besitzen, die die Schule nicht besuchen können, weil sie über keine Kleider verfügen. Es gibt Menschen, die tagelang im Bett liegen, weil sie weder Holz noch Kohle noch Kleider noch Schube be– sitzen. Das Menü heißt Tag für Tag: Wassersuppe! Immer wieder Wassersuppe. Auch die Kartoffeln sind schon ein un– erschwinglicher Luxus! Es gibt 900 Ausgesteuerte, darunter 106 Familienväter. - Man zählt in Steyr 2028 Notstandsunter– stützte, 855 haben für eine Familie zu sorgen. Das ist Steyr, die Stadt der Arbeitslosen, die Stadt, die langsam, die immer schneller stirbt. 0 du ~epriesene, alles veredelnde Zivilisation! Grenzenlos ist der Reichtum, den du geschaffen hast, ist der Luxus, mit dem du die Glücklichen umgibst, und grenzenlos ist die Not, in der du Taus.ende, Hunderttausende versinken läßt/ Wollt ihr die Leidens g es chic h t e von Steyr hören? Auf zwei Be· trieben beruhte das Leben der Stadt: Auf den St e y- r e r W e r k e n, die im Krieg Waffen, nach dem Friedens– schluß Automobile produzierten. Und auf der Gummifabrik im benachbarten G a r s l e o. Diese Gummifabrik ist g e s c h l o s- s e n worden. Der Semperitkonzern hat seine Produktion „konzentriert", es war eine Rationalisierungsmaßnahme, und Rationalisierung kommt von Vernunft. Das Resultat der Rationalisierung? Die Gummiarbeiter sind brotlos! Die Steyrer Werke waren das Herz der alten Stadt. Als die Bodenkreditanstalt durch die verbrecherischen Speku– lationen ihrer Machthaber und durch die Heimwehrpolitik der Seipelclique vernichtet wurde, gerieten die Werke in Steyr auf die schiefe Ebene. Langsamer ging das Herz von Steyr, träger wurde das Leben der Stadt. Immer neue H u n- d er t s c haften von Arbeitern warf die Krise a ufs Pflaster, immer langsamer schlug das Herz der Stadt, immer trauriger sah es in ihren Mauern aus. Das Auto verdrängt die Eisenbahn, täglich lesen wir Hymnen auf den „Siegeszug des Benzinmotors", aber die Auto– mobilstadt gebt zugrunde. Man braucht sie nicht, es gibt keinen Absatz für ihren Fleiß. Am Tage der· denk· würdigen Gemeinderatssitzung richteten die Herren der Steyrer Werke wieder einmal ein Ultimatum an die Arbeiter und Angestellten: Sofortige Annahme der Lohn- und Geh all k ü r 2 u n gen oder - Stillegung der Betriebe! Hungern oder Verhungern - zwischen diesen Möglichkeiten läßt der Kapi– talismus seine Sklaven wählen ... Hat Steyr nicht den Aufstieg, die Geschichte der österreichische·n Eisenindustrie verkörpert? 0 ja, aber jetzt ist es „überflüssig" geworden. Welch eine Gesell– schaftsordnung, die gleich ganze Städte von der Landkarte streichen möchte! .Die gleich Tausende um ihre Existenz bringt! Erinnert ihr euch noch an das harte,•unmenschliche Wort, mit dem man in der „großen Zeit" des Stahlbades alles zu entschuldigen suchte: ,.Jetzt ist Krieg!" Hört ihr heute nicht ein anderes: 11 J et z t ist Kris el" Weltwirtschaftskrise! Und Steyr droht am Kapitalismus zu ster– ben. Es darf nicht sein! Eine Million SchilHng fehlt der Gemeinde Steyr, aber eine Million Schilling hat ja der österreichische Staat für jeden größeren Heimwehrauf– marsch ausgegeben! Und für Steyr soll es keine Hilfe geben? Es gibt nur eines: Schafft Geld für Steyr! 3
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