Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 4

Gottes steigert sich. An der Nordwand drüben sehen wir fünf Heilige; östlich davon, sichtlich getrennt von ihnen, einen machtvollen Engel (Abb. 1); sein Stab sagt uns wohl, daß er der Bote ist zwischen den Menschen und Gott (Gabriel?). Die Steigerung erhöht sich: an der Triumphbogenwand die beiden großen Engel, wie strenge Torhüter vor dem höchsten Hei ligtum. Man hat den Stilunterschied zwischen allen übrigen Malereien und diesen beiden Engeln an der Ostwand stets hervorgehoben; einige meinten, daß so gewal tige Differenzen in der Auffassung sich nur durch einen beträchtlichen Zeitabstand von mehreren, von vielen Jahrzehnten erklären ließen; andere sahen in der antiklassischen, fast ornamentalen Auflösung der Engelskörper den Maler insularer Herkunft gegenüber einem zweiten Künstler, welcher sich zweifellos um Körperhaftigkeit und um ein Hintereinander der Ge stalten müht und darum den Nachklang spätantiker Kunst erahnen läßt. Mögen zwei Hände hier und dort gearbeitet haben oder nicht, sicher ist und unverkennbar, daß sie an einem Konzept arbeiteten. Widerspricht doch die Raum disposition in stufenweisem Anschwellen der Hieratik von Westen nach Osten dem ähnlich von anderen Denkmälern her bekannten und auch später im ganzen Mittelalter üblichen Gebrauch keineswegs. Jenes Span nungsmoment an der Schwelle vor dem Allerheiligsten, von dem wir schon sprachen, ist es, das den schein baren Stilbruch, das die Verwendung des Flechtbandes (statt des Mäanders dort) erklärt. Lehrreich und für die Datierungsfrage nicht unwich tig ist, was wir daraus erschließen dürfen. Als „hier atisch" gilt stets das Strenge und Althergebrachte; so findet das Jüngere, Moderne, ja Revolutionäre meist eher im Schiff Platz. Das heißt für Naturns, daß man das Graphisch-Expressiv-Flächengebundene der Ost wandengel (den insularen Nachklang) als das Tradi tionelle, die (neuerliche Aufnahme einer spätantiken Komponente (Räumlichkeit, kompaktere Farbigkeit u. a.) als das Neue, als den „Versuch" empfand. Nur wenig später ist es anders. Planmäßig werden die spätantiken Vorbilder nachgebildet und gerade an der Ostwand und über dem Altar. Was man in Rom, Ravenna oder Mailand sah, wird als dem Hei ligsten gemäß empfunden. Die karolingische Kunst ist Ergebnis einer Schulung und in vielem gelenkt vom Kreis der Gebildeten. Sie wählt darum ihre Vorbilder in Zentren der Kunst. Ganz anders das, was uns in Naturns entgegen tritt. Wenn hier von spätantiken Erinnerungen gespro chen wird, so meint man jene provinziolrömische breite Schicht, deren Erzeugnisse noch allenthalben, selbst in Reichweite der Bergtäler irgendwo vor Augen gestanden haben mögen. Mit Recht hat Schrade die Malereien der Prokuluskirche aus der Unmittelbarkeit von Kinderzeichnungen zu erläutern versucht'). Es ist hier die „Sicherheit des Selbstverständlichen" mit der intensiven „Fähigkeit, die unfaßlichsten Wunder zu glauben" verbunden. In dieser Unmittelbarkeit des Willens zeigt sich der innerste Kern der Persönlichkeit des Malers. Damit aber wird man die Einordnung und Zeitstel lung der Wandgemälde vielleicht doch etwas näher umreißen können. Den Dreiklang der Mischung aus Insularem als dem Ausdruck der Hieratik, aus dem germanisch-unbändigen Willen, alles an sich heran zureißen und bewältigen zu können und aus dem Neuaufgreifen provinzialrömischer Erinnerungen wird man am ehesten in die Zeit nach den Romanenprie stern und vor die schulende (und damit uniformie rende) karolingische Renaissance, also in die Zeit um 770 bis 780 setzen wollen. Dieser Dreiklang aber ist zugleich auch das ent scheidende Kriterium dessen, was wir Frühmittelalter Wohl 50 Forscher oder mehr haben in eigenen Berichten zu den Problemen von Naturns Stellung genommen; kaum eine andere Dorfkirche dürfte ähnlich oft untersucht worden sein. Schon die beiden ersten Bearbeiter Josef Garber (Mitt. d. Zentr. Komm. 1915, S. 155, und Romanisdie Wandgemälde Tirols 1928, S. 37 ff.) und Giuseppe Gerola (Gli affreschi di Nafurno, Dedafo 1925, p. 415 ff.) kamen zu enigegengeseizten Ansichten über die Pro venienz; einzelne (noch 1953 Emmerich Schaffran, Schiernschriften 182) wollen die Wandgemälde ohne ausreichende Gründe viel zu früh gegen 700 oder gar noch vor 700 datieren; zuletzt sdruf Edmund Theil (Laurin-Kunstführer Nr. 1, 1959) einen geradezu vor bildlichen neuen Typus eines Wegweisers für die Besucher des Denkmals, der durch zahlreiche Defailbildchen in Briefmarkengröhe — den Blick schulend — auf alle für die „Handschrift' des Malers charakteristisdien Eigenheiten aufmerksam macht; dazu gute Lüeraturübersicht. Entscheidend ist, dafj Naturns auch in der Weltkunstgeschichfe (Andre Grabar-Carl Nordenfolk, Das frühe Mittel alter, ed. Skira 1957; Hubert Schrade, Vor- und Frühromanische Malerei, Köln 1958; unter allen die vielleicht treffendste Charak teristik) breiten Raum behauptet. ^) Vgl. die Ausführungen bei Hinkmar von Reims in Migne, Patr. Lat. 126, Sp. 584 f., dazu auch Schrade a. a. O., S. 14. 2) Brauchbare Hinweise unter dem Schlagwort „Widder' im Handw. d. Deutschen Aberglaubens IX, Sp. 554—559, und bei Leopold Schmidt in: österr. Milch- und Fettwirtschaft II (1947), S. 275—77; zum Virgener Widder außerdem A. Zlngerle, Tirolensla, S. 123; Osttiroler Heimatblätter II (1925), S. 71 ff.; zu den Grabungen in Lavant Franz Milfner Schiernschriften 98, S. 218. 4) Schrade a, a. O., S. 14 und S. 118.

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