Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 4

die unmittelbare Nähe des Autors zu spüren. Roh sieht die heutigeoi Formen der Abstrakte als „abstrakten Im pressionismus" (Tachismus), als „abstrakten Kubismus" (im Konstruktivismus) und als „abstrakten Expressionismus" (in der „ungegenständlich gewordenen Gebärde"). Insofern glaubt er jene bildnerischen Kategorien wiederzuerkennen, die von Wölfflin bereits für die gegenständliche Malerei herausgearbeitet worden sind. Vielleicht stellen „Kon struktion iund Expression" wirklich ein modernes Paar „Klassik — Romantik" dar (vgl. Fritz Strich), wenn man diese als polare Möglichkeiten künstlerischer Formgebung betrachten will. Die Entwicklung der Plastik, die mit Hildebrand einsetzt, zeigt die Wirksamkeit der neuen Möglichkeiten nicht in gleichem Maße wie die Malerei. Die älteren Bildhauer beschreiten entweder den Weg eines Eklektizismus (Klimsch u. a.) oder bleiben auf der ständigen Suche, — abgesehen von überragenden Gestalten wie Barlach, des sen Werke „anonym und gleichnisartig" wirken. Die Architektur umfaßt Wohnhaus, Einfamilienhaus, Kirchenbau, Theater- und Industriebauten, alle mit vor züglichen Bildbeispielen. Mit Recht werden „die ideen reichen Zwonzigerjahre" herausgestellt, als Scharoun, Gropius, Mies van der Rohe u. a. die Konzeptionen des neuen Bauens — vor allem des neuen WohnensI — vor ausahnten und in Deutschland in ihren Werken eine bei spielhafte Höhe erreichten. Alles das wurde 1933 gewalt sam beendet, um einem Imitationsstil von hohler Auf geblasenheit Platz zu machen. An die enge Verbindung von Wohnen und Leben knüpft man heute wieder an, zumal diese Relation allseitig zur Devise gemacht worden ist (Le Corbusier). — Die moderne Praxis in Deutschland hat genügend Beispiele aufzuweisen, die den internationa len Anschluß zeigen, auch wenn die Erkenntnisse der Architekten noch längst nicht für einen sozialen Woh nungsbau großen Stils nutzbar gemacht worden sind. Curt Grützmacher Henri Rousseau. Eine Biographie von Henri Perruchot. Deutsch von Hans-Günter Schulze, Bechtle-Verlag, Esslin gen, 1959. Es gibt genügend Fälle der neueren Kunstgeschichte, die den Biographen zunächst zu einer radikalen „Entmythologisierung" zwingen. Einer davon ist der des malenden Douaniers Henri Rousseau, der mit seinen märchenhaften Bildern, in denen sich höchste Naivität mit Brillanz des malerischen Vortrages verbindet, nicht nur zum Stamm vater der Surrealisten wurde, sondern auch den Blick der Maler und Kritiker zu einer höheren Dingbewertung ge zwungen hat. Dieser Maler, dessen wirkliches Leben fast völlig im Dunkel liegt, wird wie kaum ein zweiter auf Grund einer Legende beurteilt, die sich um ihn (schon zu Lebzeiten) gebildet hat. Henri Perruchot unternimmt den Versuch, an Stelle der „Hagiographie" eine Biogra phie treten zu lassen, die er — ganz nach bewährtem Muster — wiederum auf autobiographischen Dokumenten, Berichten von Zeitgenossen, Akten und Briefen aufbaut. Daraus ergibt sich das Bild einer verwirrenden, in ihren Handlungen widerspruchsvollen Persönlichkeit. Von zwerchfellerschütternder Naivität etwa sind Rousseaus Briefe, seine Kommentare zu seinen Bildern; ebenso erheiternd ist die Schilderung des Banketts, das Picasso zu seinen Ehren gab (von Maurice Raynal erzählt), das einen Eindruck der Scherze wiedergibt, denen: der Zöllner durch die spottlustigen Maler ausgesetzt war. Trotzdem bleibt nicht zu entscheiden, ob dieser angebliche „Naive" nicht insgeheim manchmal von einer anderen Warte aus über alle die Bohemiens lächelte, die ihn zur Witzfigur machten. In das Bild eines vollständig naiven Menschen lassen sich auch manche versteckte Ironie und eine höchst ominöse Betrugsaffäre nicht einbauen. Es scheint mit unter, als hätte Rousseau bewußt an der Festigung und Fortsetzung einer Legende um seine eigene Person mit gewirkt oder ihr zumindest nachgeholfen. Zuviele Wider sprüche führen den Versuch einer einseitigen typologischen Festlegung Rousseaus ad absurdum, so daß am Ende seiner Lebensgeschichte die Vorstellung von einem myste riösen Menschen bleibt, der außerdem einer der größten Meister der Jahrhundertwende war. In der Entdeckung dieses Rousseau, der nicht für eine eingängige Deu tung seiner Malerei passend gemacht wird, liegt die Bedeutung des Buches. Curt Grützmacher Maurice de Vlaminck, Gefährliche Wende, übers, von J. Eggebrecht. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1959, DM 12.80. Auf seinem Bauernhof, südlich von Paris, starb gegen Ende vorigen Jahres im Alter von 82 Jahren Vlaminck, der letzte große Fauve. Schon zu Lebzeiten war er historisch, ein Faktum der Kunstgeschichte der Neuzeit. Um so verwunderlicher wirkt auf den Leser heute die Lebendigkeit seines ersten Erinnerungsbuches, worin an allen Nähten die kraftvolle Vitalität dieses grandios ge walttätigen Autodidakten hindurchschaut, der in einem Atemzuge „faire l'amour" und „faire la peinture" zu sagen vermochte. Leider läßt sich der etwas peinliche, kraftmeierische Ton nicht ganz überhören. Und in der Tat scheint auch die Malerei für Vlaminck eine Art ani malisches Bedürfnis gewesen zu sein, genau so wie das Radrennen, Essen und Trinken. Hierin ist wohl auch die Wurzel seiner mitunter befremdenden Primitivität zu suchen, die oft von schlafwandlerischer Sicherheit ist, oft genug aber auch Fehlurteile produziert, die fast lächer lich wirken, wenn sie nicht sogar bösartig sind. Am sichersten operiert er mit dem Gefühl, was natürlich ver sagen muß, sobald es um Werturteile intellektueller Pro venienz geht. Daher vielleicht seine völlige Verkennung des Kubismus und die Herabsetzung anderer Maler — mit Ausnahme Modiglianis. Anschaulich und fesselnd wird er, sobald er rein gefühlsmäßig entscheiden kann: so bei Begegnungen mit einfachen Menschen, bei seinem Pazifis mus und —• wohl der beste Teil des Bandes — bei der impressionistisch angelegten Schilderung der August tage 1914. — Hinter allem aber steht eindeutig der Ego zentriker, der nur von sich oder über sich redet und sich in ollem und jedem narzistisch spiegelt. Man käme nie darauf, dieses subjektive Bekenntnisbuch „Bruchstück einer großen Konfession" zu nennen, denn mit diesem Goetheschen Begriff verbinden sich Fülle des Daseins und Urbanität, die hier völlig fehlen. Insofern ist das Buch Vlamincks kaum mehr als ein interessanter Beitrag zur Künstlerpsychologie. — Richard Biedrzynski hat der Aus gabe ein sehr lesenswertes Nachwort angefügt, welches historisch informiert und in behutsamer Weise Korrekturen vornimmt. C. G. Alfred Kubin, Dämonen und Nachtgesichte. Eine Auto biographie mit 24 Bildern. Piper Verlag, München, 1959. DM 3.—. Wolfgang Schneditz, Alfred Kubin. Mit 38 Abbildungen. Bertelsmann Verlag, Gütersloh, 1958. DM 2.20. „Die Phantasie ist das Schicksal." Für Alfred Kubin ganz gewiß. Das Furchtbare, das Gespenstische, das Abstruse, das Glitschige, das Häßliche, das Bizarre, das Monströse, das Zwergenhafte werden von seiner Feder aufs Papier geworfen, deren Strich bald zart ist, bald hart, bald drän gend, bald fließend, immer aber genotzüchtigt von der Übermacht der Phantasie.

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