Die Kirche in Naturns ist einst völlig ausgemalt ge wesen und die erhaltenen Darstellungen erzählen uns einiges darüber, wie die Zeitgenossen mit ihren Kult handlungen persönlich eng verbunden waren und warum man so baute und nicht anders. Ein einfacher Rechteckraum, nicht sehr hoch und auch nicht beson ders groß, dem menschlichen Maße angepaßt, wie ein großes Zimmer etwa; nur im Süden das Fenster, die Tür; West- und Nordwand blieben ohne Öffnung: ein Raum wirkt vertrauter, wohnlicher, wenn er nur an einer Seite Öffnungen hat. Dazu freilich im Osten „die Nische", ein abgesonderter Raumteil für den Altar, die Stelle also, wo sich dos Geheimnis voll zieht, wo Gott sich offenbart. Aus dieser Contradictio des „offenbar gewordenen Geheimen" schöpfen Bau, Kult und Glauben den Spannungsgehalt, den tieferen Sinn und die nun geltende Wegleitung. Wie einst, vor der Ausbildung der Basilika mit ihren Weg leitenden Säulen, ist der Raum wieder auf die kleine Schar, die zum Altar geht, abgestimmt. Es sind die Circumadstantes, die Umstehenden. Der Altar ist zugleich unmittelbar bei ihnen, und doch abgerückt, weil sie nicht bis an ihn herantreten. Der Priester liest — wie Reste der Ausmalung im Triumphbogen erweisen — die Messe noch mit dem Gesicht zu den Gläubigen und im Raum zwischen diesen und dem Altar; im vorderen Drittel des Recht eckraumes also, das frei bleibt, vollzieht sich die „traditio". An die Wand gemalt sehen wir an dieser Stelle das Bild der traditio (Abb. 2); auf der Epistel seite, weil es sich um weibliche Personen handelt. Zwei adelige Damen schreiten heran und im Heran schreiten schon neigen sie sich tief herab, um hin zuknien vor dem Altar; sie halten Heiliges in ihrer vom Gewand verhüllten Hand und in der anderen ein Buch; wahrscheinlich ist es die feierliche Bestiftung der eben errichteten Kirche, die hier dargestellt ist. Hinter den Damen stehen zwei Männer, deren einer mit seiner Hand auf die Spenderinnen weist, ein uns aus Traditionsdarstellungen bekannter Gestus. Wir denken daran, was in den vielen Traditionsurkunden der Zeit zu lesen ist, wie die Sippenangehörigen, ins besondere wohl der Vater und der Sippenälteste, die Übereignung mitbezeugen und jede Anfechtung der Schenkung zurückweisen. Die fünfte Person, die zu hinterst steht und wieder etwas in Händen hält, kennen wir gleichfalls aus den Urkunden; häufig wird im Nachsatz der Hauptstiftung durch den Bruder oder einen anderen Verwandten eine weitere Spende an gefügt. Auch das nächste Bild an der Wand — es schmückt schon jenen großen Hauptteil des Rechteckraumes, in welchem die Gläubigen stehen — dürfte zum Kult in dieser Kirche in engster Beziehung stehen. Noch wird damals das, was man sagen, woran man erinmern will, gerne durch ein Paradigma aus dem Alten Testa ment oder aus der Apostelgeschichte beleuchtet. Vom Titelheiligen Prokulus, der Bischof von Verona war, berichtet das Martyrologium Romanum, daß er „colaphis ac fustibus caesus e civitote pulsus est", daß er nach schwerer Züchtigung aus der Stadt vertrieben wurde. Gerade um 800 wird das Recht des Gläubigen, Verfolgungen auszuweichen, als Bischof gor den Bi schofssitz und die ihm anvertraute Herde zu verlassen, immer wieder durch den Hinweis auf die Flucht des Apostels Paulus über die Stadtmauer von Damaskus gerechtfertigt. Vielleicht galt der heilige Prokulus noch nicht als würdig, durch eine Szene aus seinem eigenen Leben im Kirchenraum verehrt zu werden. So scheint an die Stelle einer Prokulushistorie das Bild der Recht fertigung aus der Apostelgeschichte getreten zu sein (Abb. 3), dos wohl allen damals aus den Predigten im Hinblick auf Prokulus verständlich wor^). Wenr» die Gruppe daneben, angeführt von einem Mann mit dem Stock in der Hand, zu der Fluchtszene pilgert, so gilt die Wallfahrt nicht dem Dargestellten, nicht dem heiligen Paulus, sondern „ihrem" Prokulus; ja es mag sogar das in den Bergen versteckte Naturns damals als Fluchtort des Veroneser Bischofs gegolten haben und daher in besonderer Weise den Ruf eines Prokulus-Heiligtums gewonnen haben. Der Gedanke der Pilgerschaft, der Wallfahrt, tritt uns im Kirchlein noch mehrfach entgegen. Die West wand in ihrer ganzen Ausdehnung nimmt eine schrei tende Rinderherde ein. Wenn auch nur in Bruch stücken erhalten, läßt sich doch das Gesamtbild und seine Bedeutung im Kirchenraum erschließen. Zwölf Rinder schreiten von links nach rechts, dem Leittier folgend (Abb. 5), das von einem Mann vorwärts ge zogen wird; in seiner tief vorgebeugten Haltung ist dargestellt, wie sehr er sich dabei anstrengt; der Weg, den er und die Herde zurücklegte, ist mühevoll, ist, so sollen wir verstehen, weit gewesen. Neben ihm ist der Herdenhund und ganz an der Spitze ein anderer Mann, der wieder einen Stock trägt oder vielleicht, wie Edmund Theil nicht ohne Grund vermutet, einen kurzen Kreuzstab. Der Wanderstab ist ja das Attribut der Pilger und auch dieser Mann wird Anführer einer Wallfahrt sein, wie ja noch heute dem „Kreuzgang" — so heißt die Bittprozession oder Wallfahrt in Tirol — der Träger der Kreuzstange voran schreitet. „Kreuzgänge" mit Tieren sind uns im Mittelalter mehrfach und in Tirol vereinzelt selbst heute noch bekannt. Das Tier bei Kulthandlungen im Kirchenraum ist dem mit der Scholle verbundenen Gebirgsbauern keineswegs anstößig und mag zu einer Zeit, als noch Tier und Mensch in der Regel im gleichen Raum unter gebracht waren („hausten") erst recht natürlich gewesen sein. Auch mag daran erinnert werden, daß die Übereignung erst in Anwesenheit des Empfängers und möglichst durch Berührung mit der Hand richtig unan fechtbar wird; Christus aber ist — trotz seiner All gegenwart — im Altarssakrament doch viel persön licher, weil eben leiblich, anwesend. Darum erfolgt
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