Franz von Juraschek An der Wende zu neuer Form im 8. Jahrhundert möchte es einen doch beinahe an den harten Bruch — woran die ältere, heute abgelehnte Schulmeinung glaubte —■, an das fast Unvereinbare zwischen christlicher Spätantike und dem Frühmittel alter gemahnen, wenn wir uns die Gegensätzlichkeit gemeinnütziger Beträume bei den frühen Christen gegenüber dem Eigenkirchenwesen, das dann an deren Stelle trat, anschaulich vor Augen halten. Das reizvolle Prokuluskirchlein im Vinschgau ober halb Meran (Titelbild) ist, wie sich leicht zeigen lassen wird, sicherlich als die Eigenkirche eines der „neuen Herren" erbaut worden oder richtiger als Eigenkirche der Frauen aus solcher Familie. Unter den Kunst historikern entstand bald ob der Zwiegesichtigkeit der Stilkomponenten in den Wandgemälden ein leb hafter Meinungsstreit und er herrscht noch heute'). Allzu deutlich schimmert trotz der gewollt anti-klas sischen Züge, die überwiegen, in vielem unleugbar „Romanitas" hervor. Aber das andere ist kaum be achtet, daß sich in diesem Verein einfachster Bau formen, bäuerlicher Unbekümmertheit bei fast gewalt tätigem Glaubenswillen ganz genau ebenso das fried same Nebeneinander spätantiken und germanisch urwüchsigen Denkens zeigt. Wir glauben nicht mehr, daß der Völkersturm das antike Erbe nahezu völlig vernichtet habe. Aber vom Nebeneinander reden wir zu wenig; wir vergegen wärtigen uns nicht anschaulich genug, wie lange noch und wie nachhaltig in seiner Wirkung auf die jün geren Generationen dieses Nebeneinander war, das in unseren Landen durch Jahrhunderte bestand: Das Nebeneinander spätantiker Denkmäler und der spät antiken Art zu denken neben wachsenden Neubauten der nun Ton angebenden germanischen Stämme und neben ihren sich erst jetzt neuerlich festigenden Lebensformen. Eben als die Periode vom wirksamen Nebenein ander der sich ablösenden Weltanschauungen charak terisiert sich das Frühmittelalter. Es gab noch — bei uns im Alpenraum — Reste heidnischer Antike, kel tische und sogar illyrische Gebräuche; es gab und lebte noch das spätantike Christentum unter Romanen; es richtete daneben der neue Herr mit seinem so anders gearteten Brauchtum. Es standen noch die Kirchen der frühen Christen mehrfach aufrecht und sie dienten noch für Kult handlungen. Jedoch, weil man darin die Lehre der „Knechte" vertrat, war den Kirchenältesten der Ro manenweiler, den Presbytern, die wir kaum mehr Priester nennen dürfen, ein Einfluß auf die bairischen Dazu die Abb. 1—6 Herren niemals möglich. Auch gab es ja damals — vor der neuen Mission — keinen Bekehrungswillen, keine gefestigte Überzeugung und nur Erinnerungen an einstige Bildung. Als um 700 die Männer vom Westen und von den Inseln kamen, Rupert, Emmeram, Korbinian, da waren Romanen ihre ersten Gehilfen; taufen ließen sich die Baiern, aber Priester wurden diese nicht. Noch nicht. Zwischen der Mission durch die von auswärts kommenden Mönche mit insularen Tradi tionen und dem Beginn des eigenen bairischen Priestertums liegt eine Zwischenperiode von reichlich fünfzig Jahren. In dieser Zeit haben Romanen das Priesteramt versehen! V7ir verstehen es wohl und unterschätzen es nicht, was ein solches Romanenzwischenspiel historisch be deuten muß. Nicht die Schemen verblassender Spät antike, sondern das, was sie von Iren und Angel sachsen erlernt hatten, gaben die auf der Scholle ver bliebenen Provinzialromanen an die Baiern weiter. Welch ein kulturelles Gemenge ergab doch diese Lage! Und umgekehrt gilt auch, daß die insularen Lebensregeln, die insulare Kunst meist nicht unmittel bar hereinwirkte, daß sie vielmehr in breiter Schicht aus Romanenhänden zu den Baiern kamen. Mußte sich nicht solcher Mittlerweg in der Art der neuen Kunst ausprägen? Als ob es die Aufgabe wäre, uns ein besonders klares Beispiel dafür vor Augen zu stellen, ein Muster, das eigentlich nicht mißdeutet werden kann, so glau ben wir das seltsame und nichts anderem richtig ver gleichbare Südtiroler Denkmal, das Prokuluskirchlein in Naturns zu verstehen. Darin wird es für uns zu etwas ganz Wesentlichem; es wird zum signifikan testen Repräsentanten dessen, was wir Frühmittelalter nennen. Denn die Kunst im Frühmittelalter beginnt nicht erst durch den Willen eines einzelnen und sie ist nicht allein aus der Herrschernatur Karl des Großen etwa geboren, sie beginnt nicht mit den monumentalen Bau ten seiner imperialen Gesinnung oder mit der breiten Schicht uniformer Dorfkirchen im Aufbau der neuen, vom Frankenreich geförderten kirchlichen Organisation. Am Anfang steht in den einzelnen Stammesgebieten eine eigenwillige, aber sehr lebenskräftige Kunst und dort, aus diesem zäh gehüteten Wurzelboden nahm auch die aufblühende karolingische Renaissance ihre beste Kraft, die verhinderte, daß aus Nachahmen Manierismus wurde.
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