Ein Blick auf einen karolingischen Elfenbeinkruzifixus (Abb. 16), der ohne innere Richtung und von gleichsam lebenswarmer Leiblichkeit ist, mit seinen geöffneten Augen, voll von noch unausgeschöpftem seelischen Leben^'), kann zeigen, was mit der „Richtung" an innerer Erfahrung in das byzantinisierende ottonische Werk eingezogen ist. Doch ist der Gero-Kruzifixus eigentlich kein Leidenschristus, wie der Gekreuzigte im späteren Mittelalter. Die Gebärde des Sterbens ist eins mit der strömenden Bewegung, die den ganzen Leib erst schafft; sie ist ein Tun. Nicht durch Sym bolik, sondern aus der Gestaltung heraus wird Christi Opfertod dargestellt als ein mächtiges Tun, dos „von oben" ausgeht und nicht so sehr von menschlichen Gestalten ausgeführt wird, sondern sich Gestalten, selbst die des Gottmenschen, neu erschafft. Byzanz und das Abendland kann man, auch von solchen Bildern des Gekreuzigten her, geradezu als Pole in der Auffassung religiöser Kunst einander gegenüberstellen. Die Antithese, um die es geht, ist angedeutet in dem Wort eines modernen Künstlers, Paul Klee: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar." Die Byzantiner sind in ihrer Kunsttheorie überzeugt, daß die christliche Kunst Sicht bares wiedergeben müsse, um sichtbar zu machen. Daß Christus sichtbar war, ja daß er körperlich, räumlich „umschrieben" (perigraptos) auf Erden wan delte, ist die Rechtfertigung für die ab-bildende, diese Sichtbarkeit wiederholende Darstellung; auch andere Heilsgestalten müssen sichtbar gewesen sein, um die Darstellung zu rechtfertigen^®). Freilich nicht „das Sichtbare" schlechthin wird gesucht wie in der natu ralistischen Kunsttheorie, gegen die sich Klee wen det^'), sondern um ihrer Heilsbedeutung willen er scheinen Christus und die Heiligen in irdischer Ge stalt. So sind auch auf dem Kreuzigungsbild von Daphni die Figuren körperlich „richtig" und irdisch greifbar; Christus leidet und stirbt als Mensch. Doch die Formgebung zeigt etwas vom Sinn dieser Erschei nung, wenn sie sie veredelt und vergeistigt, im Aus druck des Leidens mildert, vor Goldgrund stellt. Die abendländische, ottonische Kunst macht auf viel direktere Weise sichtbar. Freilich nicht wie die heu tige Kunst, über der Klees Ausspruch steht. Sie bleibt weitgehend gebunden an die Gestalten der Heils welt und der Schöpfung. Aber in diesen gibt sie unmittelbar, nicht auf dem Weg über abbildende Werte, ein Geistiges kund — wie in einer neuen Be lebung der vom byzantinischen Mittelalter unter drückten symbolischen Gestalten, wie in dem, was man das „Gedankenbild" (aus dem Gedanken, nicht der Anschauung heraus gestaltete Bild) genannt hat®®), so auch in der „expressiven" Formgebung. Diese führt innerhalb des ottonischen Stils zu keiner Auf lösung von Gestalten, sondern sie schafft, organisiert und verdichtet sie. Sie führt sogar, wie der GeroKruziflxus zeigt, durch Konkretisierung übermensch licher Kräfte zu neuer „Plastizität", zu neuer körper licher Gegenwärtigkeit®^) im irdischen Raum. Damit wird nun doch wieder verständlich, wie, über den tiefen Gegensatz hinweg, die byzantinische Kunst eine Hilfe für die ottonische sein konnte. Wie spät antike und gleichzeitige byzantinische Werke der karolingischen Kunst geholfen haben, überhaupt „zur Gestalt zu kommen", so hat die etwa gleichzeitige byzantinische Kunst der ottonischen im wörtlichen Sinne die Richtung gewiesen. Ihre Erfahrung und Zucht hatte geprägte Formeln bereit, welche den ottonischen Künstlern für eine neue Konzentration sakraler Gehalte dienen konnten®^). Für nähere Angaben mu^ ich hier öffers verweisen auf meine Disserfatlon „Ottonische Einzelfiguren unter byzantinisdiem Einfluß, Studien zur Byzantinischen Frage in ottonischer Zeit", mosch.sdir. München 1949 (hier zitiert Diss.)i von der eine er gänzte Zusammenfassung unter dem Titel „Zur Byzantinisdien Frage in der oftonisdien Kunst" in Byzantinische Zeitschrift 52 (1959), S. 32—60, erschienen Ist (hier zitiert Aufsatz). 2) Vita Heinrici IV. imperatoris. Recensione Wottenbachii (Script, rer. germ. in usum scolorum), Hannover 1899, S. 12. ^) B. Bisdioff, Das griechische Element in der abendländischen Bildung des Mittelalters, Festschr. F. Dölger = Byzantinische Zelt schrift 44 (1951), S. 27 ff. ^) S. a. Anm. 1 a. O., Diss., S. 11 f. ®) Ebd. sowie bes. W. Ohnsorge, Eine Rotulus-Bulle des Kai sers Michael VI. Stratiotikos von 1056, Byzantinische Zeitsdirift 46 (1953), S. 47 ff. und Abendland und Byzanz, Darmstadt 1958, S. 333 ff. ®) Die Werke Liutprands von Cremona, hsg. von J. Bed<er, Hannover und Leipzig *^1915, c. 3, 9, 37, 40, 54, S. 177, 180, 195, 198, 204; in deutsdher Obers.: Aus Liutprands Werken, übers, v. K. Frh. V. d. Gsten-Sacken (G. d. V. 29), Leipzig o. J. (M889), S. 131, 135, 154, 157, 167, ') Ebd. Secker c. 13, 33, S. 183, 192 („mensam sine latifudlne longam"), G. d. V. S. 138, 151. Ebd. Becker c. 9, S. 180, G. d. V. S. 135. ®) Ebd. Becker c. 63, S. 211, G. d. V. S. 176. ^^) G. Soyter, Die byzantinischen Einflüsse auf die Kultur des mitttelalterlichen Deutschland, Leipziger Vierteljahrschr. t. Südost europa 5 (1941), S. 153 ff. ^^) A. Boeckler, Die Reichenauer Buchmalerei, Die Kultur der Abtei Reichenou, hsg. von K. Beyerle, München 1925, Bd. II, S. 956 ff., hier S. 985 ff., s. audi ders., Bildvorlagen der Rei chenau, Zeitschr. f. Kunstgesch. 12 (1949), S. 7 ff., hier S. 24. ^^) A. Boeckler, Kölner ottonische Buchmalerei, Beiträge zur Kunst des Mittelalters, Berlin 1950, S. 144 ff. ^^) G. Sv/arzenski, Die Regensburger Buchmalerei des 10. u. 11. Jhs., Leipzig 1901, S. 77 ff. ^'^) Z. B. lehrender Christus, sterbender Gekreuzigter (beide 5. u.), Marientod, Tempelgang Mariae, Kaiserkrönung durch Christus in Ganzfigur. Besonders wichtig wäre daraufhin eine Untersuchung der Evangelienzyklen. Zum Krönungsbild vgl. besonders F. Döl ger, Die Ottonenkaiser und Byzanz, Karolingisdie und ottonische Kunst, Wiesbaden 1957, S. 49 ff.; dort auch zu den politischen Voraussetzungen der künstlerisdien Beziehungen im allgemeinen. ^®) Vgl. das Thronbild Heinrichs II. in seinem Sakramentar, Abb. A. Goldschmidt, Die deutsdre Buchmalerei, 2. Bd., FirenzeMünchen 1928, T. 73, mit dem Karls d. Kahlen im Codex Aureus von St. Emmeram, Abb. G. Leidinger, Meisterwerke der Buch malerei, München (1920), T. 1. lö) Vgl. Christus in der Maiestas Domini vom Evangellar der Sainte-Chapelle, Abb. Goldschmidt a. Anm. 15 a. O., T. 9, mit dem der Viviansbibel, Abb. W. Koehler, Die karolingisdien Mi niaturen I., Die Schule von Tours, Berlin 1930, Tafelbd., T. 73, oder Christus vom Pefershausener Sakramentar, Goldschmidf a. Anm. 15 a. O., T. 19, mit dem des Lorscher Evangeliars, Abb. ebd. Bd. I, T. 39. ^') A. Anm. 1 a, O., Diss. S. 46 f., Aufsatz S. 41 f. ^®) H. Wentzel, Mittelalterliche Gemmen, Zeitschr. d. D. Ver eins f. Kunstwiss. 8 (1941), S. 45 ft., hier S. 47. iO) A. Anm. 1 a. O., Diss. S. 46 f., 55 t., Aufsatz 5. 42 ff. W, Ohnsorge, Ottos III. Legation an Basileios II. vom Jahre 998, Abendland und Byzanz, Darmstadt 1958, S. 288 ff. 20) Die Madonna auf dem elfenbeinernen Mailänder Weihwassergefä^, Abb. A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingisdien und sächsisdien Kaiser, Bd. II-, Berlin 1918, Nr. 1; die Mainzer Elfenbeinmadonna, Abb. ebd., Nr. 40; Die Hil desheimer gro^e Madonna, Abb. R. Wesenberg, Bernwardinische Plastik, Berlin 1955, Abb. Ulf. (S. 171) und 154 f.; die Madonna In der Miniatur des kostbaren Bernwards-Evangeliars im Hildes heimer Domschatz Nr. 18, Abb. F. J. Tschan, Saint Bernward of Hiidesheim, Notre Dame, Int. 1952, Bd. 3, T. 58; die Holzmadonna
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