Werk alles Spitzig-Feine, eng Zusammengenommene einem breiten, großen, gespannten Schwingen ge wichen ist. Zugleich ist alle organisch-natürliche Leib lichkeit durch eine direkte Formwerdung geistiger Impulse^^) ersetzt. Geblieben aber ist die innere Senk rechte, die Eindeutigkeit der Haltung. Wir können den Grund, aus dem heraus die Um wandlung der byzantinischen Motive geschah, und zugleich den Sinn der Anlehnung an Byzanz besser verstehen, wenn wir den „Christus als Sieger" eines karolingischen Elfenbeins (Oxford), um 800, daneben halten®^) (Abb. 20). Die Figur löst sich nicht aus der allgemeinen Fülle von Form und Leben, die über die ganze Tafel ergossen ist; in ihr ist alles geborgen. Die Figur ist Ballung, Zusammenfassung dieser Fülle; aber auch das kleinste Motiv, eine Gewandfalte, eine Windung des Drachens, zieht oder biegt sich zu sammen, betont sein Eigensein. So umfaßt die Figur eine Menge von Ansätzen immer neuer „Gestalt"; ebenso umfaßt sie eine Vielheit von Möglichkeiten immer neuer Bewegung, ohne eine davon entschieden auszuüben: sie scheint zugleich stehen, laufen, fliegen zu wollen und damit sind die Ansätze zu vielfältigem Tun in ihr noch lange nicht erschöpft. Ein „Namen loses", Unerschöpfliches ist überall wirksam und wird zu Gestalten geballt; die Figur ist erste Verdichtung ursprünglicher Lebendigkeit. Auch in dem kraftvollen Gesicht ist unausgeschöpfte Fülle. Eine solche Figur hat weder eine Individualität im späteren Sinne noch eine bestimmte Sendung, Richtung und Aufgabe ihres Daseins, aber sie ist Person®"), lebendiges Wesen als kraftvolle Zusammenfassung von Leben. Daß das, was Gestalt sein kann (der „Gestaltbegriff") so an der Wurzel gefaßt ist, darin liegt die Würde dieser karolingischen Christusfigur. Die Ottonische Figur bringt demgegenüber eine unerhörte Akzentuierung und Konzentration. Aber es ist ein weiteres Einfangen der im Karolingischen noch richtungslosen Lebensfülle, was zu so gespannter Fas sung der Stehflgur geführt hat und was sie vom byzantinischen Vorbild grundsätzlich unterscheidet. Der byzantinische „Einfluß" hat also seinen sinnvollen Ort innerhalb des besonderen Schicksals abendlän discher Kunst, die zu immer schärferer Fassung von „Gestalt", über eine neue Konturierung, Abgrenzung in der romanischen, eine neue Mittenbezogenheit in der gotischen Kunst bis hin zum Individuum der Neu zeit, unterwegs ist. In dem ottonischen Werk dient die erste schärfere Ausrichtung gerade der überpersön lichen „Sendung", hier der Machtgebärde des Him melsherrschers und Gnadenspenders. Mit der Figur selbst ändert sich auch ihr Verhältnis zum Raum der Arkade, in dem sie steht. In dem karo lingischen Werk gab es keine Spannung von Figur und Raum; alles war nah; eng, wie eine Klammer, umfaßte die eckige Toröffnung die Christusfigur, die gleichwohl über sie hinaustrat. Jetzt, mit der neuen Akzentuierung der Figur selbst, bleibt viel freier Grund um sie, eine im Goldglanz schimmernde Fläche, die sie in ihrer neuen Bedeutsamkeit heraushebt. Zum erstenmal in abendländischer Kunst entsteht „Distanz" im wörtlichen und im geistigen Sinn um die Figuren. Ein Blick auf den byzantinischen Heiligen zeigt, wie gerade das in der etwa gleichzeitigen (nicht der frü heren) byzantinischen Kunst vorgebildet war, die leichte Andeutung eines Bogens ist im Hintergrund der Miniatur gegeben®'). Doch führt das zu keiner Vereinzelung der ottonischen Figur. Sie schwingt ja aus dem Grunde vor und strahlt ihre Gnadenkraft in ihn aus; er wird zum intensiv erfüllten Kraftfeld, zum geistig erfüllten Raum. Erst die abendländische Dyna mik macht ihn dazu. Es scheint, als ob eine solche Wirkungsweise dem Mittelalter doch wenigstens zum Teil bewußt gewesen sein könnte. Jedenfalls findet man im folgenden Jahr hundert bei Hildegard von Bingen eine Erklärung des Wesens der Einzelflgur von ihrer Dynamik her, in Form einer symbolischen Deutung von Statuen der Virtutes®®): „Daß sie einzeln, gesondert stehen, weist auf den glühenden Eifer, mit dem jede in dem ihr eigenen Machtbereich (statura magisterii) ihre ganze Kraft einsetzt." 2. Schon eine solche Stehfigur ist also voller „Ge schehen". Heilsgeschehen zwischen zwei Figuren schil dert die „Verkündigung" des Sakramentars von Sankt Gereon (Paris), ein Werk der Kölner Buchmalerei um 980 (Abb. 13). Albert Boeckler hat gezeigt®"), wie solche Landschaftskulissen mit Hügeln und großen Gebäuden aus einer antikisierenden Richtung byzan tinischer Buchmalerei abzuleiten sind, für die wieder der cod. Regin graec. 1 im Vatikan stehen kann. Auch die Schlankheit der stehend die Botschaft empfangen den Muttergottes, ihre „subtilitos", die präzise Art, wie sie, vor ihrem zarten Profil mit dem Gesichts ausdruck der Aufmerksamkeit, die Hände überein ander ausbreitet (vgl. Heinrich und Kunigunde vom Baseler Antependium) müssen dem gleichen östlichen Vorbild entstammen. Sie ist ganz scheues, doch würdevolles Erwarten. Ebenso kommt aus Byzanz das Richtungsbetonte nun einer bewegten Figur, des ein tretenden Engels. Ein Vergleich mit byzantinischen Engeln wie dem des Pariser cod. graec. 64 kann das zeigen, gegenüber der Verkündigung vom karolingischen Oxforder Elfenbein, die ähnliche öst liche Vorbilder ganz anders umgewandelt zeigt'"). Die Bewegung des Engels dort geht in der Darstel lung des Vordringens, so machtvoll diese ist, nicht auf; ein „Mehr", ein Überschuß an unausgeschöpftem inneren Leben bleibt, so wie auch in der sitzenden, breiten, in sich bewegten Maria; so mündet die Be wegung des Engels auch nicht in der, hier vom Flügel um- und abgefangenen vorgestreckten Rechten, wie in dem ottonischen byzantinisierenden Werk. Wieder ist das Geprägte der Darstellung, hier des Gesche-
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