Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 4

Handschriften des 10. Jahrhunderts nachweisen. Das besagt, daß sowohl diese, als auch die entsprechenden Miniaturen des Cutbercht-Codex und die außerordent lich verwandten des Millenarius auf gemeinsame, und zwar ostchristliche Vorbilder zurückgehen dürften. Für die verwendeten Ornamente können wir eine breite Schicht von Handschriften namhaft machen, die diese in sehr ähnlicher Weise aufweisen. Da sie in verschiedenen Klöstern des bayrischen Bereichs ent standen sind, ist damit ihr bodenständiger Charakter nachgewiesen. Daß gewisse Beziehungen zur Orna mentik der langobardischen Kunst bestehen dürften, scheint mit diesen Auffassungen gut übereinzustimmen. Danach haben wir in den angelsächsischen Schreibern und Miniatoren der genannten berühmten Handschrift ebenso wie in dem kunstreichen Goldschmied des Kelches Fremdlinge und Einzelerscheinungen zu sehen. Zweifellos sind sie wegen ihrer künstlerischen Über legenheit zu solchem Ansehen gelangt, daß sie zu den bedeutendsten Aufgaben herangezogen wurden, ohne sich jedoch den bodenständigen Traditionen ganz entziehen zu können. Daß damit diese Traditionen als machtvolle Faktoren nachgewiesen werden, ergibt sich von selbst. Sind wir in der Lage, diese Kräfte in ihrer Eigen art näher zu bestimmen? Können wir Beispiele nennen, in denen diese Tradition mehr oder minder unberührt von der insularen Kunstform zutage tritt? Wir glauben diese Fragen bejahen zu können. Erstens gibt es in Salzburg, in Mondsee und in Kremsmünster, ebenso wie übrigens auch in Freising und in Regensburg, eine ganz breite Schicht von Schriftdenkmälern, die aus einer Schrifttradition kommen, welche dem ganzen Nordalpenbereich gemeinsam ist und in der die in sularen Vorbilder niemals vorherrschend geworden sind. In jedem Einzelfalle sind die „Fremdlinge", wie jener Peregrinus von Freising, rasch von der Masse der bodenständigen Schreiber überflügelt und bei seite geschoben worden. Ein zweites und das Hauptargument für eine positive Beantwortung unserer Frage erblicken wir in der Be schaffenheit von drei prunkvollen Plenar-Evangeliarien, die ziemlich gleichzeitig mit dem Cutbercht-Codex ent standen sein müssen, auch wenn man sie bisher zum Teil später datiert hat. Sie vertreten eine ganz andere künstlerische Tradition. Nur eines von ihnen ist fast unversehrt durch alle die Jahrhunderte gegangen: der Codex Millenarius von Kremsmünster. Seine großen Evangelistenbilder (Abb. 11) stammen fast alle von der selben Vorlage ab wie die Evangelistenbilder des Cutbercht-Codex, sein Text vertritt dieselbe eigen artige Textrezension wie jener Codex. Eine Besonder heit der Ausstattung dieser Handschrift sind die blatt großen Darstellungen der Evangelistensymbole, die den Evangelisten gegenübergestellt sind. Die Bilder sind von einer außerordentlichen inneren Größe, ihre Qualität verträgt jede Vergrößerung und wird mit einer solchen noch wirksamer. Wir können aus einer Anzahl von Beobachtungen heraus begründete Ver mutungen äußern, daß diese Handschrift tatsächlich auch in Kremsmünster entstanden ist. Die beiden anderen Prunkevangeliare sind nur fragmentarisch auf uns gekommen. Beide sind mit zahlreichen Initialen verziert gewesen. Von dem einen, dem 1 n g o I - Städter Evongeliar, wie es nach dem Fundort der Fragmente genannt wird, besitzt die Bayerische Staatsbibliothek in München etwa ein Sechstel des ursprünglichen Umfanges (clm 27270), die ältesten Her kunftshinweise deuten auf Reichenhall nahe Salzburg, wo die Handschrift aber nicht entstanden sein kann. Unter den erhaltenen Doppelblättern, die olle im 17. Jahrhundert als Einbände von Wirtschaftsakten dienten, sind auch vier überaus qualitätsvolle Canonessei t e n (z. B. Abb. 10) erhalten, die einer seits zum Cutbercht-Codex, andererseits zum Millena rius Beziehungen aufweisen. Die insularen Kompo nenten werden von anderen Elementen bei weitem in den Schatten gestellt, die Evangelistensymbole in den Medaillons der großen Cononesbögen wirken außer ordentlich salzburgisch. Die andere Handschrift, deren Überreste in Nürnberg und New York aufbe wahrt werden, — sie erlitten im 17. Jahrhundert das gleiche Schicksal einer Verwendung als Einbanddeckel — dürfte in Mondsee entstanden sein. Von dieser Handschrift sind weder bildliche Darstellungen noch Cononesbögen erhalten, doch zeigt die Qualität der ehemals sehr zahlreichen Zierbuchstaben, daß es sich um eine sehr prunkvolle Handschrift gehandelt hat. Alle drei Plenarien sind in einer überaus qualität vollen Unziolschrift geschrieben, die keinesfalls insular ist. Wenn man vermutet hat, daß die Voraussetzungen zu dieser Qualität nur dem karolingischen Bereich entstammen können, so spricht dagegen die Tatsache, daß der Text und der Formenbestand der Ornamente ausgesprochen vorkarolingisch sind. Man kann dafür mit guter Berechtigung die Bezeichnung „agilolfingisch" wählen, zumal im Formenschatz auch langobardische Elemente vorhanden sind. Damit ge winnt die Annahme, daß auch die hervorragende Schrift auf einer einheimischen Grundlage beruht, erhöhte Bedeutung. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Verona ein besonderer Mittelpunkt für die Pflege der Unziolschrift gewesen ist. Neben diesen überaus wichtigen Evangeliarien gibt es auch andere Texte, die mit Vorliebe mit Buch schmuck ausgestattet werden. Es sind vor allem Schriften der Kirchenväter, z. B. Ambrosius und Gregorius. Besondere Aufmerksamkeit verdienen mehrere Hieronymus-Handschriften der Salzburger Schreibschule, von denen eine, der Wiener Codex 1332, mit dem Bild des Autors versehen ist und eine andere, ein Matthäus-Kommentar im Stift St. Peter in Salzburg (cod. a VII 2), eine wirkungsvolle, bisher unveröffentlichte Initiale (Abb. 9) enthält.

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