Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 2

achtfache, Paris in 50 Jahren um das zweieinhalbfache. Eine völlige Veränderung der Herstellungsmethoden und das Verdrängen und Ablösen des Handwerks durch die Industrie führt zur Machtstellung der Technik. Die Entwicklung der Naturwissenschaften führt zu einer Revision unseres Weltbildes und verändert den menschlichen Alltag bis in alle Einzelheiten. Die Archi tektur hatte sich bisher auf fast gleiche Bauaufgaben beschränkt: Kirche, Schloß, Rathaus und Bürgerhaus. Mit der Industrialisierung begannen sich nun neue Bauaufgaben herauszukristallisieren, wie Fabriken, Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Sport bauten, Schulen, Bibliotheken und Ausstellungs gebäude. An dieser Fülle von Einzelaufgaben schei tert der Eklektizismus mit seiner an historischen Vor bildern geschulten Methode. Jede stilgeschichtliche Epoche hat noch, auf der Suche noch ihrem spezifi schen Ausdruck, das Material gefunden, das ihrem Anspruch entsprach. Zu den bisher natürlichen Bau stoffen: Stein, Holz und Lehm, kommen die künst lichen: Stahl, Beton und Glas. In einer Zeit des schöp ferischen Tiefstandes erwartet man sich nun vom Eisen entscheidende Anregungen. Solche gehen in der Tat vom Brückenbau aus. 1779 baut John W i Ik i n s o n die erste gußeiserne Brücke in Europa über den Severn bei Coalbrookdale in England. Diese reine, auf jeden Dekor verzichtende Konstruktion führt zu einer neuen ästhetischen Wirkung. Mit großer Kühnheit entwirft Thomas Telford 1801 eine weit gespannte stützenlose Brücke über die Themse in London. Der erste Versuch im Hochbau ist die von Henri Labrouste 1843—1850 erbaute Bibliotheque Nationale in Paris. Unmittelbar darauf, 1851—1854, erbaut Joseph Paxton den Kristallpalast in London. Als Gegenstück dazu entsteht 1889, anläßlich der Pariser Weltausstellung, die „Galerie des machines", die bereits als klassisch zu bezeichnende Stahlkon struktion. Hier gelingt zum erstenmal eine völlig stützenfreie Überspannung von großer Distanz (115 m), sie ist die Erfüllung einer seit Jahrhunderten erträum ten Raumvorstellung. Der zur selben Ausstellung errichtete Eiffelturm (Höhe 300 m) verwertet die Er fahrungen der vorhergegangenen Brückenbauten und wird mit seiner architektonischen Eleganz zum Denk mal der modernen Ingenieurkunst. Im 19. Jahrhundert gilt Stahl als der neue Baustoff, obwohl der Stahlbeton seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, durch die Entdeckung des Gärtners Monier, bereits bekannt ist'). Die konstruktiven Grund lagen schafft erst der Franzose Francois Hennebique im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, zur gleichen Zeit, als man in der Architektur die schlichte, sachliche Form anstrebte. Stahlbeton setzt sich aus Stahl und Beton zusammen. Beton selbst besteht aus einem Gemenge von Sand, Kies, Zement und Wasser, ist also nidits anderes als ein künstlich hergestelltes Ge stein. Stahlbeton verbindet die Orud(festigkeit des Betons mit der Zugfestigkeit des Stahls. Der Beton umschließt dabei feuersicher die dünnen Stahleinlagen und schützt sie zugleich vor Rost. Die neue Konstruktionsmöglichkeit und dieser Ge staltungswille führen zu einer günstigeren Entwicklung als im Stahlbau, wo es eigentlich nur zu Einzellei stungen kam. Nun entstehen auch die ersten Kirchen bauten im neuen Material. 1894 baut Anatole de Ba udot die Kirche St. Jean de Montmartre in Poris, den ersten Sakralbau aus Stahlbeton. Die Raumform bleibt der mittelalterliche Gewölbebau. Erst 1908 folgt die von Theodor Fischer erbaute Garnisonskirche in Ulm, auch aus Stahlbeton (die Zwischenfelder sind ober mit Ziegeln ausgefüllt). Sie bricht als erste mit dem basilikalen Schema. 1903 errichtet der Altmeister des französischen Beton baues, Auguste P e r r e t, 1874—1954, das Wohnhaus in der Rue Franklin in Paris in Skelettbauweise. Es gelingt ihm damit, eine für Stahlbeton typische Ge staltung zu entwickeln. Die wenigen Stützen, auf denen die Konstruktion ruht, erlauben weitgehende Freiheit in der Raumteilung durch Trennwände. Da mit ist der variable Grundriß, später ein Element der modernen Architektur, geschaffen. Bei Perrets Ent wurf für eine Garage in der Rue Ponthieu in Paris tritt die unverkleidete Skelettkonstruktion als Architektur form in Erscheinung. Sie ist Konstruktion und Form zugleich. Die nicht tragende Wand wird in Glas auf gelöst. Damit wird eine weitere Ausdrucksform der modernen Architektur vorweggenommen. Höhepunkt seines Schaffens aber ist die Kirche Notre-Dame Le Raincy 1922. Die Wände aus Stahlbetonfertigteilen, von jeder Tragfunktion befreit, lassen das Licht all seitig ein, die dünnen Stützen wirken als senkrechte Raumakzente und bilden die seitliche Begrenzung des mittleren Schiffes. Damit ist der modernen Architek tur der endgültige Durchbruch im sakralen Raum, in der Einheit von Material und Konstruktion, gelungen. 1913 baut Max Berg die Jahrhunderthalle in Breslau, eine Betonrippenkuppel mit einer Spannweite von 65 m. In Amerika beginnt die Entwicklung mit der von George Washington Snow entwickelten BolloonFrame-Konstruktion, einer Art zimmermannsmäßig vor bereiteten Skelettkonstruktion in Holz, zum erstenmal angewandt bei der Kirche St. Mary in Chikago 1833. 1848 entwirft James Bogardus eine Gußeisen fabrik in New York. Gußeiserne, vorfabrizierte Ele mente ersetzen das Mauerwerk. Die Tragkonstruktion besteht aus gußeisernen Stützen und Balken. Dieses Gebäude ist als Vorläufer für die Skelettbauweise zu bezeichnen. Erst durch die Verwendung von Stahl, der nicht nur druck-, sondern auch zugfest ist, und durch das Verbinden der Stützen und Balken wird das Ske lett vom Fundament bis zum Dach ein in sich steifes Tragwerk. Die erste Stahlskelettkonstruktion wendet William Le Baron Jenney bei dem Home Insurance Building in Chikago 1883—1885 an, sie wird zum Markstein einer von innen heraus organisierten Archi tektur. Durch die Übersetzung von Sempers „Stil" und

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