Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 2

Curt Grützmacher Marc Chagall im „Haus der Kunst" in München „Ohne Glauben, ohne Tugend, ohne Traum kann auch der reduzierte Mensch nicht sein." — Für diese hoffnungs freudige Formel aus dürftiger Zeit scheint gleichermaßen als Beweis und Antwort die Bilderwelt Marc Chagalls zu stehen, deren unabstraktes Vokabular neue Ordnungen stiftet, die — jenseits des Gewohnten — ein Reich der Traumwirklichkeit, der beseelten Poesie, des mythischen und tief religiös verankerten Seins in neuer V^eise zum Erlebnis werden lassen. Religion und Mythos gestalten sich hier in einer ganz persönlichen Schöpfung und es gehört zum Wesen der Kunst Chagalls, daß sie ihre Wur zeln in diesen Bereichen hat und von hier aus sinnhaltig wird. Damit unterscheidet sich Chagall grundsätzlich etwa von Picasso, dessen Thematik ja nicht von einer persön lichen Bindung an traditionelle Bereiche bestimmt wird, sondern von den assoziativen Wirkungsmomenten aktu eller Ereignisse und subjektiver Zustände. So wie die Themen wechseln bei Picasso demzufolge auch die stili stischen Mittel, deren Abfolge eine Entwicklung deutlich macht. Ganz anders dagegen Chagall, dessen ständig sich wiederholender Themenkreis als Entelechie bezeichnet werden kann, also als ein von Anfang an bestehender Wesenszustand, der sich in wenigen symbolischen Zeichen kundtut und in diesen ständig erneuert. Von einer Ent wicklung kann daher auch nur in sehr eingeschränktem Sinne gesprochen werden, nämlich soweit es sich um die Aneignung neuer malerischer Mittel handelt, die oft nahezu nahtlos dem vorhandenen Reservoire angeglichen werden. Diese Tatsachen sind leicht zu überprüfen in der großen Ausstellung im Haus der Kunst, die mit über 400 Werken, darunter über 180 Gemälden, die bisher größte gezeigte Schau von Werken Chagalls darstellt und ab Juni ge schlossen in Paris zu sehen sein wird. — Gerade die Ge schlossenheit des CEuvres erschwert allerdings die Orien tierung, die ja nur an den zentralen Werken erfolgen kann. Bereits die frühesten Bilder aus den Jahren 1907—1911, deren Motive sich an unmittelbar Erlebtes anschließen, legen eine Wurzel frei, die zur unabdingbaren Komponente seiner Kunst geworden ist: das Judentum, in Form jener vom Ethos der Freude bestimmten Frömmigkeit der Chassidim, denen ja die Familie des Malers angehörte (vgl. hier zu Heft 4/1958, S. 16 ff.). Gleichzeitig zeigt sich, wenn man von den malerisch konventionellen Anfängen absieht, das Bestreben, den Bildraum als Ausdrucksmittel zu aktivieren („Sabbath", 1909). Es ist ein Raum, der nicht zu fliehen, sondern sich entgegenzudrängen scheint, wodurch auch das Bildgeschehen merkwürdig aggressiv wird. — 1911 gelingt Chagall der Sprung nach Paris, worüber er selbst sagt: „Ich blieb und, was das wichtigste war, ich blieb ich selbst" — eine bis heute gültige Feststellung. Hier fand die frucht bare Auseinandersetzung mit dem Kubismus, dem Delaunayschen „Orphismus" und der leuchtenden Farbigkeit der französischen Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts statt, die man eher als gelungene Assimilation bezeichnen könnte. Die großen Formate aus diesen Jahren zeigen die Wendung zum Formalen, besonders in der Bewältigung der malerischen Spannungswerte in der Bildfläche („Ruß land, der» Eseln und den anderen", 1911); sie zeigen auch die gekonnte Verwendung der kubistischen Mittel, der ,valeurs plostiques', wie sie Leger so vollendet beherrschte („Meiner Braut gewidmet", „Selbstbildnis mit den sieben Fingern"), und die Aufsplitterung des Gegenstandes in seine kristallinisch schimmernden Grundstrukturen („Stil leben", 1912). — Nach der von Apollinaire angeregten Ausstellung in Berlin, in Herwarth Waldens „Sturm"-Galerie (1914), erfolgte jene Rußland-Reise, die infolge des Kriegsausbruches zu mehrjährigem Aufenthalt wurde. Die in Rußland bis 1922 entstandenen Bilder zeigen sichtbar den Gebrauch der in Paris gewonnenen Ausdrucksmittel: es sind kubistisch aufgesplitterte Landschaften, mitunter so gar einer Collage ähnlich („Kubistische Landschaft", 1918), teilweise auch an surrealistische Einflüsse erinnernd („Bella mit dem weißen Kragen", 1917). Am Beginn der zweiten Pariser Zeit steht eine Serie von Blumenbildern (ob 1924 etwa), deren leuchtender, fast im pressionistischer Auftrag die kommende Entdeckung der Farbe bereits ahnen läßt. Zugleich weisen die Datierungen auf beginnende lange Produktionszeiten hin und deuten damit schon jene kritische Periode um 1930/1931 an, die den großen Werken der dreißiger Jahre noch vorgelagert ist. Inzwischen sind für Vollard die Illustrationen zu Gogol und La Fontaine entstanden; der Auftrag, die Bibel zu illustrieren, ist erteilt. Wohl dos poesiereichste Bild der kommenden Jahre ist „Die Zeit hat keine Ufer" (1930/1939), das eine bisher ungekannte sensible Oberflächenstruktur entfaltet und im Thema — eine Uhr, die einem geflügel ten Fisch begegnet — fast wie ein lyrisches Gebilde in eine Dimension dichterischer Realitäten zurückweicht. Pierre Reverdy sah den bildschöpferischen Vorgang darin, „indem man zwei entfernte Wirklichkeiten ohne Vergleich einander annähert, deren Beziehung alleine der Geist be griffen hat". Ähnlich wäre der Sinngehalt der „Liebenden mit dem Eiffelturm" (1938/1939) zu umschreiben, wobei dos schwebende Verharren sinnvoll eine Bewußtseinslage, die jenseits der rationalen Welt liegt, veranschaulicht. -— Die politischen Ereignisse in Deutschland zeichnen sich ab in Bildern von dokumentarischer Gewalt, auf denen der Gekreuzigte als Symbol des leidenden Menschen schlechthin erscheint („Weiße Kreuzigung", 1938; „Mar tyrium", 1940; „Kreuzigung in Gelb", 1943). Auch Amerika, wohin sich Chagall wie so viele Emi granten 1941 geflüchtet hatte, vermochte die Eigenart des Künstlers nicht zu verändern; wie sehr er jedoch seine Schaffenskraft aus der vertrauten Atmosphäre Frankreichs empfing, beweist die geläuterte Reife und gesteigerte Farbkultur im „Engelssturz", der — bereits 1923 begonnen — erst noch der Rückkehr 1947 fertiggestellt wurde. In Thema und Darstellung von geradezu alttestamentlicher Wucht gleicht er einer gemalten Vision. Wie die bildliche Sinnentfaltung eines religiösen Urerlebnisses überragt er in der Bedeutung wohl noch die späteren biblischen Dar stellungen („Moses", 1950/1952; „Durchzug durchs Rote Meer", 1954/1955). — Bei den beiden Werken „Erschei nung der Familie" (1935—1947) und „Das grüne Auge" (1944) tritt der Chagallsche Bildraum besonders wirksam in Aktion, indem er wie eine schalenartige Hohlform dem Beschauer entgegenwächst und diesen zwingend in das mythisch-legendäre Bildgeschehen einbezieht. — Eine Art Zyklus bilden die Werke der Jahre 1952—1955, die reminiszenzhaft und in freudiger Farbigkeit Erinnerungen an Paris heraufbeschwören, jenes Paris, das Chagall den Zauber der Farbe schenkte und damit neben den eigenen Grundkräften seiner Herkunft — dem Chassidismus und der russischen Heimat — zur dritten formenden Kraft für ihn wurde. Selbst den Zirkusthemen der letzten Jahre, dem „Stör" (1952) oder der „Roten Sonne" (1949) ist das Eigenwillige und Unverwechselbare von Chagalls Malerei dem Thema so eingeschmolzen, daß das Sujet „ebenfalls in das Zeit-

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