Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 2

Architektur stand noch immer unter dem Einfluß des Eklektizismus, der die Schule von Chikago abgelöst hatte. Zu gleicher Zeit kommt Mies von der Rohe an das Illinois Institute of Technology in Chikago. Dies wirkt so befruchtend, daß erst von diesem Zeitpunkt an von einer Breitenwirkung des modernen Bauens ge sprochen werden kann. Gropius' pädagogisches Werk ist in seiner Wirkung noch nicht abzuschätzen, er will nicht Ergebnisse überliefern, die übernommen werden können, er will eine Methode des Denkens lehren. Sein großer Gegenpol, Le Corbusier, geboren 1867 in La Chaux-de Fontes, Schweiz, ist zugleich Maler und Bildhauer und strebt deshalb ebenfalls eine Vereinigung der Künste an. Anfangs vollkommen iso liert, wird er durch seine Schriften und scharfen Formolierungen bekannt. 1908 bis 1909 lernt er bei Perret alle Möglichkeiten des Stahlbetons kennen. Stahlbeton wird auch das Material, mit dem er seine eigenen Formvorstellungen verwirklicht. Seine Ästhetik ist durch fünf von ihm formulierte Prinzipien gekennzeichnet: 1. Tragkonstruktion und raumbegrenzende Wände werden getrennt, freistehende Stützen heben das erste Geschoß vom Boden ab, die Grünzone wird unter dem Baukörper weitergeführt, der Baukörper selbst ist ein geschlossener Kubus zum Unterschied von Wright und Mies van der Rohe. 2. Der Vorstellung des Hauses als Würfel entspricht das Flachdach, die konstruktiven Vorbedingungen sind gegeben, das Flachdach wird in eine Dach terrasse verwandelt. 3. Die Skelettkonstruktion erlaubt eine freie Grund rißgestaltung; die Anordnung der Wände wird ausschließlich von der Raumfunktion bestimmt. 4. Die freie Gestaltung der Außenseite — die tra genden Stützen sind innen — erlaubt ein durch gehendes Fensterband. 5. Das horizontale Fensterband dient der Einheit des äußeren Erscheinungsbildes und ist ein logischer Ausdruck der Konstruktion. Immer wieder setzt sich Le Corbusier mit den Grund lagen einer neuen Wohnungsform auseinander. Die Befriedigung von Bedürfnissen, also die Erfüllung der Zwecke, ist im Wohnhaus von 1927 in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung erreicht. Seine städtebauliche Idee ist die, die Flächenbebauung aufzulösen und durch große Wohneinheiten, die sich in die Höhe erstrecken und in großen Grünflächen stehen, zu ersetzen. Die volle Realisierung wird erreicht in der Unite d'Hobitation, Marseilles 1947 bis 1952. Die Abmessun gen des Gebäudes hat Le Corbusier auf Grund des von ihm entwickelten „Modulor" festgelegt, der eine Pro portionsreihe darstellt, die in Beziehung zu den Maßen des menschlichen Körpers steht. In seinen letzten Ent würfen verläßt Corbusier die geometrisch-rechtwink lige Grundauffassung und kommt zu einer betont pla stischen Gestaltung. Diese Tendenz läßt sich schon früher in seinen Dachaufbauten und in der Gestaltung der Innenwände erkennen. Die Plastik der spä ten Bauten steht nicht mehr in direkter Beziehung zur Konstruktion-, sondern entspricht einem reinen Form empfinden, und findet seinen Höhepunkt in der Wall fahrtskirche Ronchamp 1950 bis 1953. Sie bildet zu gleich einen krassen Gegensatz zu drei prinzipiellen Beispielen von Sakralbauten dieser Stilepoche: Karl Mosers St.-Antonius-Kirche, Basel 1926 bis 1927, eine reine Stahlbetonkonstruktion wie bei Perret, auf eine steile, kantige Raumform angewandt mit quadratischen Pfeilern statt Rundstützen; Otto Bartnings Stahlkirche, Köln 1928, ein Raum, dem eine geöffnete, entmateriali sierte, bunte Wand eine eigenartige Atmosphäre gibt, wobei die innen liegenden Stützen zwei Seitenschiffe ergeben, die als Umgang um den Chor geführt sind; die Fronleichnamskirche von Rudolf Schwarz, Aachen 1930, ein großer Einheitsraum, der durch eine geschlos sene, kompakte Ziegelwand begrenzt wird, während ein Seitenschiff Beichtstühle und Andachtsräume auf nimmt. Im Funktionalismus wird dem Grundriß großes Au genmerk zugewandt, auf seine Auflockerung und Variabilität wird großer Wert gelegt, dos Haus löst sich vom Boden, durch das Glas dringen Sonne, Licht und Luft und dos Bild der Landschaft in die Räume, der Garten setzt sich unter dem Haus und auf dem flachen Dach fort. Durch dos Verlegen der Stützen nach außen tritt eine völlige Freizügigkeit in der Un terteilung ein; Curtain-wall, Fensterband, sicht bares und spürbares Konstruktionsgerüst sind die neuerk Merkmale. Mies van der Rohe, geboren 1886 in Aachen, ist anfangs beeinflußt von Behrens' Neoklassizismus. 1919 Studien über gewellte, scharfkantige und ge brochene Glasflächen an hohen Gebäuden, 1922 über ein Bürohaus in Stahlbeton mit nach innen genom menen Stützen. Bei einem Wechsel von Brüstung und Fensterbändern dominiert die Horizontale, eine neue Form, die später immer wieder verwendet wird. Bei der dritten Studie, dem Wohnhaus 1923, ging es Mies van der Rohe um die Formulierung einer neuen Raum konzeption. Die Wand wird selbständig, greift üoer die Grenzen des Innenraumes hinaus, verbindet den Innenraum mit dem Freiraum. Mies van der Rohes deutscher Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Barcelona 1929 demonstriert am reinsten diese Form. Dos 1930 folgende Haus Tugendhat in Brünn wendet dasselbe Prinzip im Wohnhaus an. 1938 nach Amerika berufen, führt er dort als Krönung seines Le benswerkes das Institute of Technology aus. Mies van der Rohe versucht bei dieser Anlage mit äußerster Dis ziplin, die Einheit von Fläche, Raum und Körper durch ein einheitliches Maßsystem auszudrücken. Die Kapelle dieses Institutes 1952, ein stützenfreier „Einraum", ist ein edles Beispiel moderner Baukunst. Weitere „Einräume" der letzterk Jahre sind das Mannheimer Theater und der Bau der Architekturabteilung des Institutes of

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