Christliche Kunstblätter, 97. Jg., 1959, Heft 2

der weit verbreiteten Publikation „Manifest über die moderne Baukunst" von Otto Wagner durch John W. Root beginnt der Einfluß europäischer Architektur theorien spürbar zu werden. Louis S u II i v a n, 1856 bis 1924, der stärksten Persönlichkeit der damals ent stehenden „Chikagoer Schule", gelingt mit seinem 1899 erbauten Warenhaus Carson, Pirie und Scott in Chikago, der besten Ausdruck der Skelettkonstruktion. Sullivan wird nicht nur als Praktiker, sondern auch als Theoretiker richtungweisend; sein Gedanke, ein Ge bäude von innen nach außen zu planen, war damals neu. Durch die Weltausstellung 1893 in Chikago feiert die sogenannte „Abstrakte Schönheit" den Sieg über die funktioneile Gestaltung Sullivans und damit auch über die Chikagoer Schule und ihre modernen Strö mungen. Allein dastehend, führt der aus dieser Schule hervorgehende Frank Lloyd Wright 1869—1959 deren Tradition weiter. Die Einordnung des Baukör pers in die Natur und die Entwicklung des Hauses von innen nach außen, ohne Bindung an die über lieferten Formgesetze, führt zum „organischen Bauen". Erst 1932, seit der Berührung mit der modernen euro päischen Architektur durch die nach Amerika emigrier ten Architekten, tritt Amerika wieder entsdieidend auf. Loslösung In den neunziger Jahren entwickeln sich in England, Belgien, Österreich und Deutschland Bewegungen, die trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsame Züge auf weisen: Ablehnung jeglicher Formen vergangener Stile, Suche nach einer neuen Ornamentform (damit noch dem 19. Jahrhundert verhaftet). In England sam meln sich in der Bewegung Arts and Crafts um William Morris, 1834—1898, und John Ruskin, 1819 bis 1900, bereits nach der Mitte des Jahrhunderts Künstler, die um die Hebung des handwerklichen Niveaus bemüht sind. Der Schotte Charles Rennie Mackintosh übt später, mit seinem neuen Konzept für das Wohnhaus (von innen nach außen konzipiert, mit zweigeschossiger Halle, um die die übrigen Räume locker gruppiert werden) wesentlichen Einfluß auf Adolf Loos und die Wiener Sezession. Zum Unter schied von „Arts and Crafts" erkennt ArtNouveau in Belgien die Bedeutung der Maschine für das neue Bauschaffen. Henry van de Velde, 1863—1957, der spätere Direktor der Kunstschule Weimar, mit seiner „Reinheit der neuen, zweckmäßigen Form" bildet das Haupt dieser Bewegung. Die in München erscheinende Zeitschrift „Jugend" gibt dem Stil seinen Namen. Um ihn gruppieren sich Victor de Horta in Belgien, H. P. Berlage in Holland und Charles Rennie Mackintosh in England, die Wiener Sezession mit Otto Wagner, 1841—1918, der, ursprünglich dem Eklek tizismus verhaftet, sehr bald eigene Wege geht, die Reinheit der Form aus der Konstruktion entwickelnd (vgl. dazu seine 1895 erschienene Publikation „Mo derne Architektur"). Bei seiner 1905 entstandenen Postsparkasse in Wien verzichtet er auf jeden orna mentalen Schmuck und findet in seiner Anlage und seiner Kirche am Steinhof in Wien, die ein bisher unerreichtes Beispiel sakraler Architektur darstellt, seinen Höhepunkt. Joseph Olbrich, ein Schüler Otto Wagners, stellt mit seinen Bauten auf der Mathilden höhe in Darmstadt die Verbindung zu der deutschen Gruppe mit Behrens, Eckmann, Endeil und Riemerschmid her. Die Wiener Sezession bildet die Grund lage für die 1903 entstehende „Wiener Werkstätte", in der Joseph Hoffmann dos moderne Wiener Kunst gewerbe gestaltet. Adolf Loos 1870—1932, ein Feind des Ornaments und damit der Antipode zu Olbrich und Hoffmann, schafft mit seinem Haus Steiner 1910 einen puritanisch strengen, einfachen Baukörper; die Fenster sind ohne Profile in die nackte Fläche ge schnitten, die ästhetische Wirkung geht allein vom Wechsel von verglaster und geschlossener Fläche aus. Durch die Absage an das Ornament tritt die Propor tion hervor. Die unbedingte Sachlichkeit wird die neue Architektursprache. Viele Anregungen dieser Zeit stammen von Malern und Plastikern. Für die Entstehung der modernen Architektur ist die „optische Revolution" entscheidend. Neue Sehgebiete erschließen sich, die perspektivische Raumvorstellung wird abgelöst von der Sehform, die ein Objekt von verschiedenen Standpunkten aus zu gleich erfaßt. Das bedeutet in der Architektur, daß der nach außen durch Wände abgeschlossene, ein deutig von einem Standpunkt erfaßbare Raum ab gelöst wird von einem Gefüge ineinandergeschobener Raumvolumina. Das Stahl- und Stahlbetonskelett gibt die konstruktive Möglichkeit. Adolf Loos' Haus Steiner kann hier als erstes Beispiel angeführt werden. Die holländische S t i j I gruppe, zu der sich 1917 die Maler Mondrian und Von Doesburg, die Architekten Oud, Van't Hoff und der Bildhauer Vantongerloo zusam menschließen, setzt sich mit den sozialen und wirt schaftlichen Gegebenheiten der Zeit auseinander. Die wechselseitige Beeinflussung der Künste führt zum erstenmal zu einem formal geschlossenen Erschei nungsbild auf den verschiedensten Gebieten. Die Ent würfe der Stijigruppe leben vorwiegend von der Har monie von Kuben, Flächen und Linien, hinter der die Funktion und Konstruktion zurückstehen. Als klas sisches Beispiel und Manifest zugleich, ist das 1923 von Van Doesburg und Car von Festeren entwickelte Haus anzusehen. Die veränderte Vorstellung von Ge stalt und Funktion des Hauses führen zur Auflösung des nach außen zu abgeschlossenen Raumes und be gründen damit die neue Raumkonzeption der moder nen Architektur mit ihrer Verbindung von Innen und Außen. Mies van der Rohe verwirklicht diese Andeu tung 1930 ini seinem Haus Tugendhat in Brünn. Hier sei auch noch Antonio Gaudi, 1852—1956, der die fließenden Linien des Jugendstils in die Dreidimen-

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