Zeit mit ihrem absoluten Stilgefühl so viele kostbare Denkmäler der Gotik rücksichtslos vernichtete, wenn sie dem neuen Gestalten im Wege standen. Wie viele gotische Kirchen samt dem ganzen unersetzlichen Inventar an Altären, Bildern und Erzeugnissen der Holzschnitzkunst sind dieser Bauwut und dem Streben, modern zu sein, zum Opfer gefallenI Doch gehen wir mit den weniger erfreulichen Zeiterscheinungen und Denkweisen nicht allzu streng ins Gericht. Eine große künstlerische Kraft und ein verschwenderisches Ausdrucksvermögen 'hat doch Leistungen vollbracht, die ihresgleichen suchen. Das barocke Österreich ist in der Tat eine große, vollblütige Zeit, die ungewöhn lichen Energien zum Ausdruck verhilft. Dieses Öster reich, ob es sich in Wien oder Prag oder Breslau repräsentiert, sammelt seine geistige Kraft zu einer großen und einheitlichen Kulturmission im gesamten Donauraum. Heute werden die prächtigen Denkmäler eines hochgemuten Zeitalters mit Scheinwerfern an gestrahlt und Hunderttausende wandern durch die hohen Marmorsäle und glänzenden Bibliotheken. Sie sehen sich in eine Zeit versetzt, der Raum noch etwas Wesenhaftes war, der nach Gestaltung verlangte, in eine Zeit, die aus der Fülle des Lebens schuf, Geist und Phantasie in Bewegung setzte und die Grenzen des Daseins in die Unendlichkeit zu rücken suchte. Wir heutigen Menschen verdanken unseren Ahnen viel an Lebensfreude und geistigen Werten. Dr. AIcuin Gürth OSB, Würzburj Lurago, Carlone und Dientzenhofer Dazu die Abb. 1 bis 6 ^JT^ie Architekturgeschichte des süddeutschen Rauy mes im 17. Jahrhundert ist auf weite Strecken hin in Dunkel gehüllt. Und doch liegen gerade hier die Voraussetzungen für die überragenden Leistungen der großen deutschen, ja europäischen Raumschöpfer des Spätbarocks beschlossen, für einen Balthasar Neumann, einen Kilian Ignaz Dientzenhofer, einen Johann Michael Fischer, um nur einige Namen zu nennen. Die Scheu der Kunsthistoriker, dieses Gebiet zu bearbeiten, ist freilich verständlich. Oberaus umfang reiche Quellenforschungen und genaue Bestandsauf nahmen wären notwendig, um all die genealogischen, soziologischen, politischen, kirchlichen, kunstgeogra phischen, typenhaften und stilistischen Beziehungen ans Tageslicht bringen zu können. Die Größe dieser Aufgabe — der Name Lurago weist in ThiemeBeckers Künstlerlexikon 9, der Name Dientzenhofer 10, der Name Carlone gar 54 Träger aufl — übersteigt bei weitem die Kraft einzelner Forscher. Nur ver trauensvolle Gemeinschaftsarbeit dürfte Aussicht auf Erfolg haben. Im folgenden können nur einige An regungen und Hinweise auf die Problematik dieser Arbeit gegeben werden. Die Heimat der Familie Lurago haben wir in der Nähe von Como zu suchen. Das Haupt der italieni schen Bauleute in Prag im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts, Carlo Lurago (gestorben 1684 in Passau), war in Laino im Volle d'inteivi zu Hause. Sein Wirken griff über die Grenzen Böhmens hin weg nach Bayern und Österreich. Die nördlich der Alpen arbeitenden Glieder der weitverzweigten Künstlerfamilie Carlone sind olle in Scario im Volle d'inteivi bei Como geboren und an sässig gewesen. Ihre Bauwerke, Stukkaturen, Plasti ken und Bilder finden sich in ganz Österreich, in Bayern, Württemberg und der Schweiz verstreut. Für unser Thema sind vor allem die Namen von drei Architekten bedeutungsvoll: Pietro Francesco (ge storben 1681 in Garsten) und dessen Söhne Carlo Antonio (gestorben 1708 in Passau) und Giovanni Battista, der besonders als Prinzipal einer Stukkatorengruppe hervortrat. Die Dientzenhofer stammen aus Au bei Aibling im mittleren bayerischen Oberland. In der ersten Gene ration, die uns vor allem angeht, sind die fünf Bau meisterbrüder Georg (1643—1689), Wolfgang (1648 bis 1706), Christoph (1655—1722), Leonhard (1660 bis 1707) und Johann (1663—1726) berühmt geworden durch ihre Tätigkeit in Altbayern, Franken und Böhmen. Bevor wir auf einige architekturgeschichtliche Be ziehungen im Problemdreieck Böhmen, Oberöster reich, Altbayern eingehen können, soll eine Aufstel lung derjenigen Orte und Werke, die eine gesicherte Zusammenarbeit der drei genannten Familien aufzu weisen haben, die Materialgrundlage liefern.
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