Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

Die Raumdarstellung von der Renaissance bis zum Impressionismus war auf die zentralperspektivische Illusion gerichtet. Die neue Wahrhaftigkeit des „aper spektivischen Zeitalters" verabscheute die Illusion und predigte die Realität im Sinne des Ausspruches von Maurice Denis. Und die erste gegenstandsfreie Malerei predigte die „heilige Fläche" — das heißt die unverletzbare, die unbedingt zu respektierende reale Gegebenheit der Bildfläche. Nach ihren An fängen um 1910 hat nun aber die gegenstandsfreie Malerei eine Entwicklung durchgemacht, die sie weit von ihren ersten Zielen fortgeführt hat. Was ist also heute aus der „heiligen Fläche" geworden, die sich einst in den Ateliergesprächen sieghaft an die Stelle der „göttlichen Perspektive" gesetzt hatte? Heute ist der Streit um die gegenstandslose Malerei selbst „gegenstandslos" geworden. Zwar ist es nicht so, wie eine törichte Parole es neuerdings glauben machen möchte: es gibt nichts, was auch nur im ent ferntesten einer „Diktatur der Abstrakten" ähnlich sähe. Immer noch sind natürlich die üngegenständlichen in der Minderheit, und niemand hindert die Gegenständlichen, auszustellen und zu verkaufen, nie mand spricht ihnen die Lebensberechtigung ab. Die Kritiker haben sich darauf geeinigt, daß die „ab strakte Malerei" nichts anderes ist als eine Kunstgat tung wie das Figurenbild, die Landschaft, das Still leben, wenn sie auch der Mentalität unserer Zeit allen Anzeichen nach fast ebenso sehr zu entsprechen scheint wie das Figurenbild der Mentalität des Mittel alters oder die Landschaft der Mentalität der Roman tik. Die Minderheit der gegenstandsfreien Maler hat sich seit 1945 auch in Deutschland immer mehr durch gesetzt und ist in den Vordergrund des Interesses der ernsthaften Sammler gerückt. Und dadurch, daß hier zum erstenmal in der Kunstgeschichte ernst gemacht wurde mit dem transzendentalen Sinn der Ebenbild lichkeit des Menschen — denn diese Ebenbildlichkeit war bei Moses auf einen unsichtbaren Gott bezogen! —, erscheint diese neue Gattung der Malerei dem Pater Regamey sogar als die religiöse Kunst der Zukunft. Noch vor einigen Jahren konnte man bei führenden Meistern der Abstraktion den Eindruck haben, der Gegenstand solle gewissermaßen durch die Hintertür formaler Assoziationen wieder einge führt werden. Fast alle diese Maler (z. B. Nay, Ritsehl, Baumeister, Meistermann, Ackermann, Manessier, Singier, Esteve u. a.) sind aber zu einer im strengen Sinn absoluten Gestaltung zurückgekehrt oder fortgeschrit ten. Daneben begrüßt man auf den großen, gemisch ten Ausstellungen neue Ansätze einer betont schlich ten Gegenständlichkeit. Es scheint also, daß an Stelle der eine Zeit lang propagierten „Synthese" eine Koexistenz zu treten scheint, im Sinne jenes gleichen Synkretismus, dem wir nicht erst seit der Jahrhundert mitte auf allen Gebieten begegnen. Und schließlich ist die gegenstandsfreie Malerei als Gesamtgattung längst nicht mehr revolutionär und auch weit davon entfernt, eine einheitliche Front zu bilden. Innerhalb der ungegenständlichen Bildgattung gibt es längst Konservative, die vor dem Neuen, das die letzten Jahre brachten, den gleichen Schock erfah ren und bekunden wie die biederen Impressionisten vor den ersten Werken Kondinskys oder die biederen Realisten vor den ersten impressionistischen Bildern. Die Aufeinanderfolge der Stilstufen innerhalb der seit fast fünfzig Jahren bestehenden Gattung der absoluten Malerei ist noch wenig untersucht worden. Das wird auch dadurch erschwert, daß fast alle erprobten Stilmöglichkeiten heute noch durchaus gleichberechtigt nebeneinander fortbestehen. Ich kann hier nur versuchen, eine sehr weitmaschige Skizze der Entwicklung zu geben. Wie ich es bereits 1953 in meinem Buch „Augen schein und Inbegriff" nachgewiesen habe, ist die gegenstandsfreie Malerei von 1910 bis 1950 durch alle Stufen der Wölfflinschen Stilbegriffe hindurchgegan gen. Diese Analogie ist allerdings ungenau und er gänzungsbedürftig, da ja die Entwicklungsziele der aperspektivischen Malerei von denen der perspek tivischen grundverschieden sind, vor ollem aber weil jeder Augenblick der geschichtlichen Zeit alle früheren Augenblicke in sich enthält. Die beiden Grenzwerte der illusionslosen Zweidimensionalität einerseits und der räumlichen Tiefenillusion andererseits treten selten in absoluter Reinheit auf. Merkwürdig ist aber, daß mindestens in Deutschland und Rußland die ersten Phasen der gegenstandsfreien Malerei in gewisser Hinsicht die stilistischen Entwicklungsergebnisse des Impressionismus und Kubismus rückgängig gemacht haben. Impressionismus und Kubismus hatten nämlich jeder auf seine Weise die Abgrenzung von Einzelform und Grundfläche aufgehoben. Diese Dualität (Figur und Raum), eigentliches Prinzip der klassischen Kompo sition, überwand der Impressionismus durch Auf lösung der Form und des Grundes in Elementarfarben, der Kubismus durch Auflösung von Volumen und Raum in Elementarformen. Dos letzte Resultat war einerseits die mit Flecken bedeckte Fläche, auf der die Umrisse völlig verschwunden, die Formen der Dinge nur noch Modulationen der Farbe und des Lichtes waren, andererseits der polyphon-prismatische Raum, der alle Formen um Achsen kristallisierte, alle Umrisse aufsplitterte und aus den Dingen Schnitt punkte kosmischer Strahlen machte. Mit der Ent deckung der neuen Möglichkeit einer auf Gegen stände, also auch auf räumliche Darstellung verzich tenden Malerei, stellte sich nun zunächst das Problem von Elementarform und Elementarfläche völlig neu. Noch nie vorher war die Fläche so ausschließlich, so von jedem Darstellungszwang unbeeinträchtigt, die gegebene Realität, mit der sich der Maler ausein-

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