Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

des Films mit der Technik. Ihm diese Verbindung von vornherein als Makel anzurechnen, wäre kurzsichtig. Denn weder die Baukunst noch die Musik könnten der Technik entraten. Das Problem liegt anderswo: Die großen Orgelwerke eines Bach hingen nicht von der Konstruktion einer technisch perfekten Orgel ob, sondern umgekehrt: die Orgeln wurden besser, als die vollkommeneren Spieler nach ihnen verlangten. Auch die großartigen Gewölbe der Spätgotik, die ein Höchstmaß an technischem Wissen und Können erforderten, wurden erst konstruiert, als die Menschen die künstlerische Reife besaßen, sie zu gestalten. Ganz anders verhält es sich beim Film: hier war das Instru ment vor der Kunst, die Ausdrucksmöglichkeit vor dem Ausdruck da. Der Film durchlief seine technisch primi tive Stufe sehr rasch und steht heute vor dem Problem einer technischen Vollendung, hinter der sich eine erschreckende geistige Leere verbirgt. Kein Film, auch wenn er innerlich noch so fragwürdig ist, kann es sich heute leisten, technische Mängel aufzuweisen. Ja, manche Produzenten glauben sogar, ob dieser tech nischen Vollkommenheit auf eine geistige Aussage verzichten zu können. Hier liegt meines Erachtens der Schlüssel für das völlige künstlerische Versagen des heutigen deutschen Films. Gerade der deutsche Mensch als prädestinierter Wissenschaftler und Tech niker verfällt nur allzu leicht dem Aberglauben, mit einer technisch sauberen Leistung sei alles getan. Trotz dieser Einwände möchte ich behaupten, daß der Film eine Kunst, und zwar eine eigenständige Kunst ist. Der Nachweis soll durch einen Vergleich des Films mit anderen Kunstgattungen, nämlich dem Drama und der Malerei, sowie durch ein Heraus arbeiten seiner Elemente geliefert werden. Der Spielfilm ist in Europa und in den USA so gut wie immer dramatisch aufgebaut. Daß diese Verbindung jedoch nicht wesensnotwendig ist, ergibt sich allein daraus, daß ein Großteil der künstlerisch hochwertigen indischen und japanischen Filme episch bzw. sogar lyrisch aufgebaut sind. (Ich möchte nur nebenbei bemerken, daß Indien und Japan nach den USA die meisten Filme der Welt produzieren.) Aber auch in Europa kennen wir zahlreiche nichtdramatische Spielfilme: „Menschen am Sonntag", „Männer von Aran", „Fahrraddiebe", „Tagebuch eines Landpfar rers" usw. Der wesentliche Unterschied zwischen Film und Drama offenbart sich aber in der Struktur dieser zwei Kunstarten: das Drama ist Wortkunst, der Film ist Bildkunst. Die meisten klassischen Dramen können auf völlig leerer Bühne gespielt werden, ohne dadurch in ihrer Ausdruckskraft etwas einzubüßen. Sie leben allein durch die Gewalt ihrer Sprache. Ganz anders ist es beim Film: er spricht durch die Ausdruckskraft seiner Bilder. Und diese bildliche Aus sage kann durch nichts anderes ersetzt werden, nicht durch die beste Musik und nicht durch den schönsten Dialog. In dieser Aussageform liegen zugleich Stärke und Schwäche des Films. Seine Stärke: er kann durch seine Bildsprache konkrete Probleme und Situationen viel anschaulicher und überzeugender gestalten, als es dem Drama mit seiner reinen Wortkunst je mög lich ist. Umgekehrt ober bereitet die symbolhafte Ver dichtung, welche im Drama ein Einzelschicksal zur allgemeingültigen Aussage erhebt, dem Film viel größere Schwierigkeiten. Weitere wesentliche Unterschiede zwischen Film und Drama liegen in folgendem: das Drama ist ge kennzeichnet durch die Einheit der Handlung, aus geprägt in der Einheit von Zeit und Raum; durch die stets gleiche Entfernung zwischen Zuschauer und Dar steller; durch die dauernde Oberblickbarkeit des ge samten Bühnenbildes. Der Film ist an die Einheit von Zeit und Raum nicht gebunden. Er kann im Gegenteil mehr als alle ande ren Künste diese Einheit sprengen und Geschehnisse weit auseinanderliegender Epochen mitsammen völlig frei verknüpfen (z. B. „Die Schönen der Nacht"). Der Film kann reale und irreale Welten miteinander ver mischen (z. B. in Cocteaus „Orphee", welcher teils in dieser, teils in einer phantasievollen Unterwelt spielt). Der Film ändert die stets gleiche Entfernung vom Zuschauer zum Spieler, indem er durch die technische Form seiner Gestaltung das Publikum vergessen läßt, daß es im Zuschauerraum sitzt und es gewissermaßen in die Handlung einbezieht. Er erreicht dies durch den Übergang von der „Totale" (= Gesamtaufnahme eines Schauplatzes) zur „Großaufnahme", in der sich der Zuschauer durch den auf der Leinwand agieren den Darsteller persönlich angesprochen fühlt. Wir wissen olle, welche Wirkung dieses Verfahren auf Kinder und Jugendliche, aber auch auf unreife Er wachsene im Tendenzfilm besitzt. In diesem „Sich-persönlich-angesprochen-fühlen" liegt der Grund, warum der Film auf den Menschen einen viel stärkeren sug gestiven Einfluß ausübt, als das Theater oder das Buch. Im Gegensatz zum Theater, wo der Zuschauer immer die ganze Szene überblickt, greift der Film mittels seines Auges, der Kamera, jene Einstellung jeweils heraus, welche er besonders betonen möchte und zwingt hiemit den Zuschauer unter seine Führung. Die Kamera wird also zum wichtigsten mitgestalten den Faktor, oder, wie man sie auch nennt: zur sub jektiven Kamera. Der Unterschied zeigt sich mir sofort, ob die gleiche Szene z. B. von Helmut Käutner oder von Federico Fellini aufgenommen wurde. Die Aus druckskraft einer Filmszene resultiert somit aus dem Spiel der Darsteller, der Einstellung der Kamera und der Gestaltung des umgebenden Milieus. Wenn Liebermann die Malerei als die Kunst des Fortlassens

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