Dr. Rudolf Malik, Linz DAS FORUM Film — die neue Kunst? Oergleicht man den heutigen Film mit dem vor fünfzig Jahren, so entspricht dies etwa dem Vergleich eines kräftigen einjährigen Kindes mit einem Embryo'). Das kleine Kind Film beginnt gerade seine eigene Sprache zu prägen, bemüht sich um seine Fortbewegung und ist vor allem darauf bedacht, durch sein Verhalten dauernd die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Es zeigt zwar noch eine Unzahl der üblichen schlechten Kleinkindergewohnheiten; dennoch bestehen für die Zukunft dieses Kindes die schönsten Hoff nungen. Einige seiner Äußerungen aber zwingen uns zur Frage, wo eigentlich sein Platz ist; ob es nicht viel leicht in die große Familie der Künste gehört, ob es nicht ein jüngerer Bruder der Malerei, der Musik, der Dichtung ist. Die Schwierigkeit der Feststellung, ob beziehungs weise wieweit der Film eine eigene Kunst sei, liegt vor allem darin, daß wir erst 50 Jahre seiner Geschichte überblicken, ein winziger Zeitraum im Vergleich zur Geschichte der anderen Künste. Eine weitere Schwie rigkeit liegt ohne Zweifel auch darin, daß nur die wenigsten Filmproduzenten den Anspruch erheben, ihre Werke seien Kunst. 1. Als in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts die ersten Filme entstanden, die länger als fünf Minuten waren, da trat der Film die Nachfolge der Posse und der erzählten Geschichte an. In der Posse wirkt der Hanswurst nicht durch das Stück, das er spielt, sondern einzig und allein durch seine Person. Wer über einen Komiker lachen will, frägt nicht nach dem Stück, das dessen Kunst zur Ent faltung bringt. Der Komiker wirkt nicht durch das, „was" er spielt, sondern „wie" er spielt. Man ging früher ins Theater, um einen Nestroy oder einen Girardi zu sehen. Ebenso fragen heute viele unserer Kinobesucher kaum nach dem Titel oder nach dem Inhalt eines Films; sie wollen nur ihren „Star", ihren Liebling sehen. Das bedingt auch die zum Teil unge heuren Stargagen, die den künstlerischen Leistungen ihrer Empfänger in keiner Weise angemessen sind, aber auch den Lohn, den diese Stars dafür bezahlen müssen, nämlich das dauernde Ringen um die Publicity, um die Gunst des rasch vergessenden Publikums. Daneben trat der Film auch noch eine andere Erb schaft an, nämlich die des GeschichtenerzähAnmerkung: Der Vergleich ist, mutatls mufandls, dem Buch von J. C. Flügel, oProbleme und Ergebnisse der Psychologie", entnommen. I e r s. Und auch diese Rolle ist ihm bis heute geblie ben. Der von seiner Alltagsarbeit ermüdete und un befriedigte Zuschauer erwartet sich abends im Kino eine zweistündige, angenehm zerstreuende Geschichte, die ihn aus seinen Sorgen herausführt in eine Welt voller Illusionen und Träume, rot in rosarot. Der Durch schnittsbesucher will den Film nacherzählen können, also gerade das tun, was bei einem hochwertigen Film nicht möglich sein sollte. Denn die Bildsprache des Films ist im Grunde genommen genau so wenig nach erzählbar wie die eines Gemäldes oder die Ton sprache eines Musikstückes. Typische Beispiele für die Übernahme dieser zweiten Rolle sind die unzähligen Romanverfilmungen, denen es im seltensten Fall gelingt, das Buch in die Bild sprache zu übersetzen und die daher in den meisten Fällen nur eine zusammengeraffte, verkürzte und ge quetschte Geschichte erzählen. Hieher gehören auch die meisten Spielfilme, in denen der Zuschauer eigent lich zum Zuhörer wird. Denn er achtet nur mehr auf den Dialog, zu dem das Bild nur eine nette Illustration liefert. Der bildhafte Ausdruck ist in diesen Filmen dann auch schon so nebensächlich geworden, daß es gleichgültig bleibt, ob der Film heißt: „Wo die Alpen rosen blühen" oder „Abends, wenn die Heide träumt". Während also die Filmposse die Handlung zugun sten des Darstellers zurückdrängt, verzichtet der Ge schichtenfilm weitgehend auf eine darstellerisch gute Leistung zugunsten der Handlung. In beiden Arten aber tritt das wichtigste Element des Filmes völlig zurück: die bildhaft gestaltete Aussage. So ist also der Film durch seine übliche Erschei nungsweise schwer belastet und jede Diskussion über seine künstlerischen Möglichkeiten wäre zwecklos, wären nicht in den letzten vierzig Jahren einige Werke entstanden, die mehr vermochten, als Ge schichten zu erzählen oder Possen zu reißen, Werke wie z. B. „Die Passion der hl. Johanna" von C. T. Dreyer, „Panzerkreuzer Potemkin", „Goldrausch", „Die große Illusion", „Früchte des Zorns", „Fahrrad diebe", „Die letzte Brücke", „La strada", „La terra trema" — Filme, die zu erschüttern, mitzureißen ver mochten und die Menschen auf eine ganz neue Weise anzusprechen verstanden. Erst angesichts dieser Filme erhebt sich die Frage, ob auch der Film Kunst sein könne. Häufig verneint man dies mit dem Hinweis auf die enge Verbindung
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