Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

Friedhof als „Bet-ha Chajilm" bezeichnet, was wörtlich „Haus des Lebens" heißt. Ein Deutungsversuch des vorherrschenden „Braut"- Motivs muß von zwei Seiten her geschehen. Zunächst geht aus Äußerungen des Künstlers hervor, daß in der häufigen Betonung eine Huldigung an seine eigene Braut, die spätere Frau Bella, zu sehen ist. Auffällig bleibt jedoch, daß sie oft allein in vollem Hochzeits schmuck erscheint, während ein „Bräutigam" oder auch nur die erkennbare Zugehörigkeit eines Partners fehlt. Sie ist ohne das erwartete Pendant, scheinbar bezie hungslos. (Was die Häufigkeit angeht, so scheint mir die letztere Darstellungsart zu überwiegen.) — Wenn hier eine — vom Persönlichen vielleicht unbewußt los gelöste — Symbolsprache vorliegt, so kann ihre Her kunft nur Im Umkreis des chassidischen Mythos gesucht werden. Nachdem so viele Wurzeln der Chogallschen Kunst von hier aufsteigen, ist es nicht verwunderlich, daß in der Tat eine Brautsymbolik im Zusammenhang mit dem „Sabbat", dem höchsten Festtag der Woche, existiert. Der herannahende Sabbat, mit rituellen Vor bereitungen erwartet, wird als „Königin" oder „Braut" angesprochen. Diese Personifikation wird in einem Ge sang, dem „L'cho daudi", mit den Refrainworten „Komm', mein Freund, der Braut entgegen, des Sab bats Antlitz lass' uns empfangen" ausgedrückt. (Als Dichter des Gesanges wird von Heinrich Heine im „Romanzero" fälschlich Jehuda Halevi genannt. Es stammt jedoch von dem kabbalistischen Dichter Sa lome Alkabez Halevi aus Safed und wird seit Mitte des 16. Jahrhunderts in allen Gemeinden Israels zum Sabbateingang gesungen.) Mitunter spielt die Brautsymbolik bei Chagall auch in den Ablauf eines „realen" Festes voller volkstüm licher Lustigkeit hinüber. Dabei sind natürlich „Klesmer" und „Badchen" unerläßliche Figuren. — Der Klesmer ist der Spielmann oder Musikant. Der Bad chen übernimmt die Rolle des Spaßmachers, der nicht nur die Gäste musikalisch begrüßt, sondern auch witzige Verse über sie oder das Brautpaar vorträgt und bei einer Hochzeit die Geschenke ausruft. Chagall räumt dieser Seite humorvollen Brauchtums genügend Raum ein, worin sich diese Gauklertypen in oft akro batischer Weise bewegen. Von der besonderen Struktur des Humors her läßt sich auch eine Abgrenzung vornehmen gegenüber dem Surrealismus, jener Ausdrucksmöglichkeit, deren Name so oft unter Verkennung der völlig andersartigen Her kunft auf die Kunst Marc Chagalls angewendet wurde. Sein Bildhumor wurzelt in einer Schicht, die gleichweit vom hintergründigen Funkeln romantischer Ironie, vom espritvollen Witz und von der aggressiven Satire ent fernt ist. Er kommt aus einer immanenten Naivität, die sich nur in dem Bewußtsein, von einer Religion der Freude getragen zu werden, bilden konnte. „Der Chossidismus lehrt, daß die Freude an der Welt, wenn wir sie mit unserem ganzen Wesen heiligen, zur Freude an Gott führt." Er verlangt von jedem Gläu bigen das freudige Beginnen des Tages, das verfrau liche Anreden seines Gottes, der in den Dingen der Welt wohnt. Trauer wäre eine Sünde. Hier ist Chagall ganz unromantisch, denn Melan cholie und Weltschmerz, die „gegenstandslose Schwer mut" (Chateaubriand), bekommen ihren ästhetischen Wert erst zusammen mit der vorromantischen Leid stimmung des 18. Jahrhunderts. Daraus folgt, daß die Bildwelt Chagalls auch absolut un-surrealistisch ist, denn die einsame Würde des surrealistischen Bild objekts wurzelt im romantischen Wissen um die stille Tragik der Dinge. Chagall ist Chassid, und sein Humor ruht in den Tiefen eines Mythos, der zum Ethos um gewandelt wurde. Seine Bilder sind wie Legenden, in denen Mythos und Religion, Märchen und Realität, das persönliche Erlebnis und die Sprache einer Ge meinde zu einer Einheit zusammenströmen. Sämtliche angeführten Zitate entstammen dem Werk Marlin Bubers, welches den Zugang zur chassidischen Geistesweit erschlof) und dadurch obigen Deutungsversudi anregte. — Der Zusammen hang mit Chagall wurde bereits von Aronson, W. Haftmann und L. Venturi ongedeutet. Prof. Dr. Lothar Schreyer, Hamburg Lyonel Felninger — Vom Erkennfnlsbild zum Symbol als mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Auf lösungsprozeß des nachmittelalterlichen „Bil des als Kunstwerk" in das letzte Stadium kam, sich die lang vorbereitete „Kunstwende" tatsächlich und radikal vollzog, mußten auch die gewohnten und gängigen Begriffe über Malerei und Bild zerbrechen und gleichsam neu erstehen in einem anders gear teten Verständnis gemäß der Verwandlung, die mit dem Menschen zu einem Menschen des 20. Jahrhun derts geschah. Diese Verwandlung — sie hat originär schöpferisch nur etwa zwei Generationen umfaßt — war eine geistige Revolution, wie sie seit rund 500 Jahren in Europa nicht geschehen war, seit dem Weltbild der Renaissance. Die Menschen der da-

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