Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

Esels, der Synagoge oder des Leuchters, die des Rabbi oder die der Thoro-Rolie. Weil alles nicht nur Ding, sondern zugleich auch Träger einer inneren Wirklich keit ist, wird das Bild zu einem simultanen Gebilde, welches die Zeit rafft und das ganze mythische Arsenal eines alten Volkes in die Gegenwart zwingt. Vor» hier aus — einem ganz anderen Ausgangspunkt also! — ebnet sich für Chagall der Weg, der ihn in die Nähe der Pariser Freunde Robert Delaunay und Guillaume Apollinaire führt, auch wenn deren „Simul tanismus" aus der bedrängenden Dumpfheit des groß städtischen Lebens geboren wird. Auch bei Chagall schwindet die Logik der Alltagswelt, jedoch um einer Erlebniseinheit Platz zu machen, deren innere Konse quenz mythische Ursachen hat. In ihr rückt „alles Vergangene und Zukünftige zur Gegenwart zusam men. Die Zeit verschrumpft, die Linie zwischen den Ewigkeiten verschwindet, einzig der Augenblick lebt, und der Augenblick ist Ewigkeit. In seinem unzersplitterten Licht erscheint alles, was war und was sein wird, einfach und gesammelt. Es ist da, wie ein Herz schlag da ist, und wird vernehmbar wie er." — Chagalls Bildwelt ist nicht eine unkontrollierbaren Zufälligkeiten ausgelieferte Traumwelt, sondern sie bezeichnet den Lebensraum der Witebsker Chassidim, worin „die Schöpfungssprache im Leben aller Kreatur" andauert und die „Anredbarkeit ihres Gottes als Wirklichkeit" ermöglicht. Im Rahmen des chassidischen Pansakramentalismus wird der einzelne Bildgegenstand zum Träger kom plexen Bedeutungsgehaltes. — Ein geradezu legendär wirkendes Beispiel dafür ist das „Haus mit dem grü nen Auge" vom Jahre 1944. — In einer unbestimm baren, offenbar jedoch östlichen Landschaft steht eine armselige Hütte, deren Giebelteil ganz von einem riesigen Auge ausgefüllt ist, das geheimnisvoll aus dem Bilde herausbildet. Das Ganze ist in einem nach Grau tendierenden Grün gehalten, so daß nicht das Haus allein, sondern die ganze Gegend zum sug gestiven Blick wird. Transparenzartige Reize lassen einen seltsamen inneren Glanz entstehen. Man glaubt die alte Legende des wandernden Zaddiks zu hören: „Der Seher von Lublin soll einmal aus einer Klause einen Lichtglanz haben aufsteigen sehen; als er ein trat, saßen Chassidim drin und erzählten sich von ihren Zaddikim." Der „Zoddik" (was etwa mit „Bewährter", „Voll kommener" zu übersetzen ist) ist der Chassid in der höchsten Vollendung; in seinem Leben verkörpert sich die Thora, weshalb er in die oberen Bereiche zu wirken und göttlichen Geist auf die Menschen herab zuziehen vermag. Obergeordnet ist ihm der „Leuchter", der nicht immer als siebenormige Menorah darge stellt werden muß. (Oft hat er bei Chagall nur drei Arme.) Der Leuchter hat die Kraft, das Wirken des Zaddik im einzelnen Falle auf die Gemeinde zu über tragen. Seine Darstellung symbolisiert also dos einheit stiftende Element, dessen Tragweite nur aus der Si tuation des nach-exilischen Judentums heraus zu be greifen ist. Eine ähnlich bedeutsame Rolle spielt der „Wagen". —■ Schon im Talmud taucht die Bezeichnung „Maaße Merkaba", d. h. „Wagenwerk", für die Lehre vom Throne Gottes auf. Seitdem wird im Anschluß an die Gotteserscheinung (Ez. Kap. 1.) das mystische Bild des V/agens zum Symbol erhoben. Da Gott die Liebe ist, kann — noch chassidischer Auffassung — die „Ganz heit des Wagens" nur durch ein von Nächstenliebe erfülltes Dasein geschaffen werden. Auch die häufige Darstellung eines widderähnlichen Ziegenbocks ist unter Heranziehung des damit ver bundenen Symbols zu erschließen, spielt doch dos Widderhorn — „Schofar" genannt — eine liturgische Rolle im Ablauf des jüdischen Kirchenjahres. Am „Rosch-ha-schana" (wörtlich: Haupt des Jahres), dem im September liegenden Neujahrstag, wird es zur Mahnung an das Endgericht, zur Erweckung der Seelen und in Erwartung des kommenden Messias ge blasen. Der enge Kontakt zur religiösen Sphäre läßt Marc Chagalls Gegenstände zu Mitteilungszeichen werden, worin „der strenge Ton der gegenständlichen Aussage unversehens durchzittert wird von einer übermäch tigen Erinnerung". Scheinbar unwesentliche Attribute des bäuerlichen Lebens vervollständigen nur den Ge samtakkord, der mit dem tanzenden Rabbi und der Thoro-Rolle schon seine Tonika und Dominante besitzt. Auf die vom Religiösen her gesteuerte Erlebnis einheit deuten auch die synagogalen Elemente hin, die über den Silhouetten traumhaft schwebender Städte zum bestimmenden Akzent werden. In manchen Bildern — besonders häufig vom Jahre 1953 ab — mischt Chagall visuelle Pariser Eindrücke, die Brücken der Seine, den Eiffelturm oder die Kuppel von SacröCoeur, mit russischen Konturen, wodurch der Aus druckswert dieser Bilder ins Melancholisch-Remi niszenzhafte hinüberspielt. Aus der Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit, mit der der Chassid die Dinge seiner Umwelt sieht, leitet sich eine bestimmte Stellung zum eigenen Ich ab. Es erscheint nur folgerichtig, wenn Chagall „den Maler" — also sich selbst! — genau so bewertet wie alle anderen Bildelemente. Er redet von sich oft völlig naiv, gleichsam in der dritten Person oder in einer Art Kindersprache, die zwischen Märchen und erleb barer Realität noch keinen Unterschied sucht. Vor der Staffelei, zusammen mit der festlich geschmückten Braut oder inmitten der Familie, erscheint er zwar als Mittelpunkt, doch die Betonung liegt auf dem Fami liengedanken. Der Gemeinschaftssinn wird besonders hervorgehoben, indem auch die abgestorbenen Mit glieder der Familie mit derselben Berechtigung wie die lebenden auftreten. Die Welt der Abgeschiedenen ist für den Chassid nicht tot, weshalb er auch den

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