Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

„Die Berge" besser ihr Wesen. Symbol der großen Natur gebietet der Berg in seiner biblischen Herrlich keit und Größe. Dos Bild mag an einem Tag entstan den sein, da der Föhn alle Formen phantastisch ge staltete und die Entfernungen zerstörte. „Die Berge rücken dann zum Greifen nahe und die Farben sind stark und rein, ohne grell zu sein" (E. L. Kirchner). Wieder ist der Blick von oben genommen, von der gegenüberliegenden Staffelalp. über flache Kuppen steigt er hinab ins Tal, wo die Gletscher ihr tiefes Bett gegraben haben, und hinauf zu den Gipfeln, deren Zacken in den Himmel reichen. Die Form, wie stets bei Kirchner, aus der Farbe gestaltet. Die war men Farben des vorderen Berges bringen ihn dem Auge nahe heran, von Gelb über Orange zu Rosa und Rot ansteigend, intensiviert vom warmen Grün. Dahinter der blaue Berg, groß, ruhig, ernst und un wandelbar. Die Farbigkeit verstärkt vom weißen Fel senhang am linken Bildrand, der in sich alle Töne aufklingen läßt, welche dem Bild seine Kraft und In tensität geben; der abfallende Grat rechts dagegen hinterfangen von Bergen mit grünen Matten und Wäl dern. Soweit der Blick reicht ober reiht sich Gipfel an Gipfel, unendliche Ferne erhabener göttlicher Schöpfung, ausgeschüttet im goldenen Glanz beglükkender Nähe. Zittert in solchem Bild in Formen und Farben noch die starke innere Erregtheit des Künstlers, so lassen bereits die Arbeiten des folgenden Jahres, wie der Holzschnitt „Junkerboden" (1921; Abbildung Seite 13) zunehmende Beruhigung erkennen. Die von Kirchner besonders geliebte und oft dargestellte Aus sicht ins Tal und die umgebende Bergwelt zeigt im Handwerklichen noch die zarten Linien des Geißfuß, welche nunmehr jedoch in Flächen und Schnittlagen Struktur bilden, sich gegenseitig stützen, von schwar zen Konturen durchzogen und umgrenzt sind. Verbun den tauchen schwarze Flächen auf und geben der Komposition ihren Halt. Der Schnitt gehört zu den schönsten im reichen graphischen Werk Ernst Ludwig Kirchners und setzt in seiner in strenge, empfundene Form gebrachten warmen Lebendigkeit beste deutsche Holzschmitt-Tradition des 16. Jahrhunderts fort. Die zunehmende Klärung und Festigung der bild nerischen Form spiegelt die Gesundung Kirchners. Mit neubelebter Schaffenskraft und Energie steht der Künstler wieder aktiv im Leben und gestaltet seine Erlebnisse und Empfindungen der ihn umgebenden Welt in einer Vielzahl von Werken aller Techniken. Ein gesunder neuer Lebensimpuls durchströmt alle Ar beiten. Neben Darstellungen der reinen Phantasie und des Symbols, in Ausdruck und Form sprechenden Por träts, steht vornehmlich die Landschaft und die in ihr lebenden Menschen. Wenn wir heute die Fülle dieser Arbeiten überblicken, so erstaunen wir über ihren Reichtum — nicht nur der Zahl —, sondern gleicher maßen den ihrer mannigfaltigen Aussage. Schaffen bedeutet für Kirchner atmen. Kein Tag seines Lebens verging, ohne daß er den Zeichenstift führte, und die vielen Hunderte von Graphiken und Gemälden ent standen ohne Pause. Kirchner kennt nicht jene Unter brechungen, die oftmals andere Künstler im Schaffen hemmt. Stetig fließt seine Arbeit. Auf seinen Spazier gängen führt er das große Skizzenbuch bei sich und notizengleich hält er Beobachtungen und Erfahrungen fest. Oftmals nimmt er auch die Radierungsplatten mit in die Landschaft und zeichnet darauf mit der kalten Nadel direkt vor dem Motiv. Immer vertrauter wird er mit der Bergwelt und ihren Bewohnern. So zeichnet er die Bilder der sich verändernden Jahreszeiten und das durch sie bestimmte Tun der Bauern. Dabei ist das Gebirge nicht abweisende, heroische Ferne — wohl sind die Gipfel einsam und entrückt, doch wo Wiesen und Felder die Hänge hinaufreichen, die Hütten sich an den Berg schmiegen, da ist es friedvoller Schau platz menschlicher Handlungen. Dort, wo Kühe ruhig grasen und Geißen munter springen, der Bauer mit seinem Wagen zu Tal fährt und Schnitter und Sen nerinnen tagwerken, wird das Leben zum Symbol der Wiederkehr in der großen und zu verehrenden Natur. Die starken Farben des Davoser Tals kräftigen die Palette des Künstlers. Verschwunden sind die gewag ten diffizilen Klänge der Berliner Bilder. Die klare Luft läßt volle und satte Töne leuchten. Vergessen sind gleichfalls die spitzen Formen der Großstadtbilder; Senkrechte und Waagrechte geben Ruhe und Ordnung. Noch immer bestimmt eine starke Dynamik alle Ar beiten, aber es ist eine Bewegung von innen her, im Geistigen. Dabei entwickelt Kirchner einen neuen viel fältigen Reichtum der Erfindung. Selbst wenn er Zwi schenzeiten des Tages und der Nacht wie im Aquarell der „Gebirgslandschaft" (1925; Abb. 8) gestaltet, bleibt die Skala der Töne von stark sinnlicher Leuchtkraft. Ruhig ordnen sich die Formen und Farben in rhyth mischer Reihung, geben der Landschaft ihre stille Ge messenheit epischer Breite und lassen dem Himmel die Bewegtheit des sich wandelnden Lichtes. Die farbliche Klärung, verbunden mit den graphi schen Elementen solcher Landschaftsdarstellung, leiten über zu jener neuen Phase im Schaffen Ernst Ludwig Kirchners, welche gegen 1926 anhebt und bis in die Mitte der dreißiger Jahre fortwirkt. Der reife Künst ler tritt mit neuen und vertieften Fragen vor die Welt der Erscheinungen und sucht in geistiger Durchdrin gung nach Erkenntnis des wahren Wesens oller Dinge, um in reiner geläuterter Form ihr Sinnbild zu erfas sen und festzuhalten. Dabei treten Erfahrungen der Wissenschaft, wie die Beobachtung von Licht und Schatten, Überstrahlung der Farben und der Bewegung in den Dienst künstlerischer Gestaltung. Ausgangs punkt aber bleibt weiter das persönliche Erlebnis des Künstlers, das vom schöpferischen Geist bewältigt zur Aussage gebracht wird. Dieser Spätstil Kirchners findet seine Klärung vornehmlich in Bildern des Porträts und

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