Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

Mond sein helles Licht über die Landschaft ausgießt. Nicht Wahnsinn und Tod erreichen ihn, wie Ärzte und Freunde fürchten, sondern Wunsch und Wille, dos große ihn umfangende Erlebnis in Bildern zu gestal ten, führen den Schwerkranken allmählich wieder in das Leben zurück. Ein schöpferisch schwächer begab ter Künstler wäre in der veränderten Umgebung und den unterschiedlichen Bedingungen ohne Echo geblie ben. Im sicheren Besitz der bildnerischen Mittel gibt sich Kirchner unvoreingenommen dem neuen Erlebnis hin; unverbraucht sind Aufnahme- und Aussagekraft des bald Vierzigjährigen. In eigentümlicher und uner warteter Weise erfüllt sich für ihn die Sehnsucht seiner Jugend, der Traum von ürsprünglichkeit und Echtheit, Kraft und Stärke. Erlebtes gegenständlich bildhaft werden zu lassen, ist Anliegen seit Beginn des Schaf fens. So entstehen die ersten schweizerischen Arbeiten, die nicht Alpenbilder sind, sondern bildlich gestaltete Erlebnisse der großen und gewaltigen Natur, die den Künstler in ihren Bann zieht. Es ist ein zögerndes, innig bewegtes Ergreifen der neuen Umwelt in allen ihren Teilen. In mühseligen, da der Stift seiner Hand nicht gehorchen will, schmerz haft berührenden Zeichnungen voll empfundenen Aus drucks, versucht er die neuen Erlebnisse festzuhalten. Im Holzschnitt der „Staffelalp" von 1917 (Abbildung Seite 9) hat er diese seine Welt dargestellt, geschaut vom entfernter stehenden, letzten dieser kleinen Häu ser, das er bewohnte. Eng duckt sich die Gruppe der Hütten an den Berghang, den Brunnen mit seinem lebenspendenden Wasser in die Mitte nehmend. Tief neigt sich nach rechts das Tal, um in den gegenüber liegenden Gipfeln wieder kräftig und zügig emporzu steigen. Schutzgebend steht der große, dunkel bewal dete Altein über der Alm und gibt den Blick zur Mitte frei, zu dem von Kirchner so geliebten schlanken Tinsenhorn. In kindlicher Entdeckerfreude ist hier ein jedes Ding bei seinem Namen genannt, die Hütten, die Tannen, das springende Vieh, die Pflanzen und der für die Schweizer Almen so typische Einbaum brunnen. Bei solchem Schnitt führt der kranke Kirchner unter äußerster Anstrengung mit beiden Händen die Schneide des Messers, dadurch werden größere Schwarz- und Weißflächen gemieden, die Formen er scheinen kleinteilig, die Linien geben Begrenzung er lebter Form oder umspannen diese in kräftigen Schraffuren. Doch die Krankheit läßt sich nicht bannen, Kirchner wird von ihr in den nächsten Jahren mit verstärkter Heftigkeit ergriffen. Seine Werke sind durchdrungen von leidenschaftlicher Innigkeit, geheimem Schmerz und unbändiger Sehnsucht nach dem Leben. Sie sind ein starkes, trotziges Dennoch, Jubel über ollem Leid. Von solcher Art kündet das große Gemälde der Berge. Mit Namen zu belegen, „Weinfluh und Schafgrind" (1920; Abb. 7), bestimmt doch ihr ursprünglicher Titel E. L. Kirchner, Junkerboden 1

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