Christliche Kunstblätter, 96. Jg., 1958, Heft 4

aufgeworfen. So verhält es sich jedenfalls in den Bil dern der meisten jungen Deutschen — ich nenne nur Emil Schumacher, Bernard Schultze, Reich an der Stolpe (Abb. 3), Peter Brüning —, während bemerkens werterweise die Pariser und Amerikaner in überwiegen der Mehrzahl die dritte Dimension vermeiden und eine rhythmisch vibrierende, aber betont planimetrische Oberflächengestaltung erstreben. Das auffallend We sentliche ist aber hier wie dort die völlige Auflösung und Einschmelzung aller Teilformen in den Bildrhyth mus, was eben die Kennzeichnung als „informel" be sagen will. Positiv ausgedrückt, heißt das: struk turelle Malerei. Diese Aufhebung der individuellen Einzelform im Bild, dieses Zurückführen oller Einzelfälle und Einzel wesen des Lebens auf eine „universelle Realität" (Mondrian) bedeutet aber keineswegs etwa gleichförmigen Kollektivismus. Im Gegenteil: dadurch, daß die Teilformeh aufgehoben wurden, ist dos Bild erst recht ein Ganzes geworden, ein Unteilbares — eine Indi vidualität also, oder vielmehr der unverwechselbarste Ausdruck der Individualität seines Urhebers. Gerade jene Bilder, die eine „Entindividualisierung der For men" anstreben, erreichen also eine besonders reine Individualität des Gesamtausdrucks. Das gilt bereits von den Werken Mondrians, deren jedes ebenso s i ngulär in seiner Form wie universell in seiner Thematik ist, und es gilt natürlich in eklatantester Weise bei den sogenannten „abstrakten Expressio nisten", wie sich die strukturellen Maler in Deutsch land bisweilen auch nennen lassen. Das widerspricht keineswegs dem Hauptziel dieser Kunst, das mir nichts anderes zu sein scheint als die Überwindung der Iso lierung des individuellen Ich. Denn dieses individuelle Ich, so fraglos es das Bild durchatmet und seine Rhyth mik bestimmt, es fühlt sich nicht als abgeschlossene Einzelform, sondern als Schnittpunkt kosmischer Strah len, alle seine Regungen kommen von weit her — von weit außerhalb des Bildrahmens und von weit außer halb der Lebensspanne zwischen Geburt und Tod. Wirklichkeit ist offenes Ineinandergreifen alldurchwaltender Kräfte und Gesetze. Es wäre falsch zu meinen, der „Tachismus" be schränke sich nur auf Flecken und Fleckenstrukturen. Graphismen sind in den meisten Fällen unveräußer licher Bestandteil dieser Malweise, gerade bei Wols, der von Klee und den Surrealisten herkam. Und wenn es der „Malerei des Formlosen" aufgegeben sein mag, zwar dem scheinbar Unmenschlichen mutig standzu halten, aber doch immer wieder im andrängenden Chaos die kosmischen Rhythmen sichtbar zu machen, dann wird sie darauf angewiesen sein, aus Flecken und Graphismen eine Zeichensprache zu entwickeln, eine Sprache von Zeichen, eine Welt von Zeichen. So gibt es neben der eigentlich „strukturellen Malerei", und fließend mit ihr verbunden, eine neue „kalligra phische" Malerei, die ihre Aufgabe in der Herstellung mehr oder weniger einfacher Zeichen sieht. Ich denke an den Freiburger Julius Bissier, den Hamburger Son derborg, den Franzosen Souloges, den Amerikaner Alcopley und den Österreicher Arnulf Rainer. In dieser Sonderart der „informellen" Malerei hat die Grund fläche nicht nur alle ihre seit Kandinsky verbrieften Rechte bewahrt, sondern sogar einen neuen, an fern östliche Mystik erinnernden Wert hinzugewonnen. Handle es sich aber um den rein „strukturellen" oder um den rein „kalligraphischen" Tachismus, immer wird es darauf ankommen, ob bei oller scheinbaren Zufälligkeit eine wirkliche Gestaltung vorliegt, ob die Rhythmen durchgehalten, die Strukturen gemeistert, die Akzente richtig gesetzt sind, ob der Zufall dem unmittelbaren Ausdruck unserer psychischen Existenz dienstbar gemacht wurde, ob der Geist die Materie beherrscht oder ob umgekehrt der Gestaltungswille von bloßen Überraschungsreizen überrumpelt und paralysiert wird. Schlagworte wie „Ultraschallmalerei" oder „Elektronenmalerei" sind rasch zur Hand. Darüber hinaus wird es aber nötig sein, angemessene kritische Maßstäbe herauszubilden, die es für die frü heren Phasen der absoluten Malerei längst gibt. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß eine Malerei, die den äußeren Menschen als Bildgegenstand ausgeschieden hat, damit die Verpflichtung übernahm, den inneren Menschen um so überzeugender zu versichtbaren. Die Distanzierung vom Menschen als einem Objekt des Sehens ist nur zu rechtfertigen durch das Bestreben, ihm als Subjekt der Schau die größte mögliche Weite zu geben, die tiefste ümfassungskraft, das universellste Ausdrucksvermögen, ünd die Bild fläche des absoluten Bildes ist zwar nicht mehr der Spiegel der äußeren Erscheinungswelt, wohl ober blieb sie und wird sie bleiben: Gleichnis und Spielraum dieses rastlos noch Erweiterung und Vertiefung stre benden menschlichen Bewußtseins.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2