CHRISTLICHE 96. JAHR A 1 9 5 8 *r
INHALT SEITE MALEREI DER GEGENWART .... 1 FLÄCHE UND RAUM IN DER GE GENSTANDSFREIEN MALEREI Kurt Leonhard, Stuttgart 2 DIE KUNST DER FORM- UND FARBENSPRACHE Oskar Schlemmer 7 DIE SAMMLUNG DR. MAX FISCHER Dr. Günter Rombold 8 NATUR UND LANDSCHAFT IM WERK ERNST LUDWIG KIRCH NERS Dr. Annemarie Heynig, München 11 DIE „CHASSIDISCHE BOTSCHAFT" IM WERK MARC CHAGALLS Curt Grützmacher, München 16 LYONEL FEININGER — VOM ER KENNTNISBILD ZUM SYMBOL Prof. Dr. Lothar Schreyer, Ham burg 18 BILDERVERZEICHNIS 24 DAS FORUM Film — die neue Kunst? (Dr. Ru dolf Molik) 25 BERICHTE: Zur Kandinsky-Ausstellung in Köln (Dr. Leonhard Küppers) .. 28 Zehn Jahre Neue Galerie Linz (Walter Kasten) 29 BUCHBESPRECHUNGEN 30 Titelbild : Lyonel Feininger, Domchor in Halle, öl auf Leinwand. Im Besitz der Hamburger Kunsthalle. Foto: Ralph Kleinhempel. Die Redaktion dankt Frau Tut Schlemmer für die Über lassung des Aufsatzes von Oskar Schlemmer, Herrn Dr. Max Fischer für die Reproduktionserlaubnis und die Fotos der in seinem Besitz befindlichen Werke und Herrn R. N. Ketterer für die Gewährung der Reproduktions erlaubnis der Gemälde und Holzschnitte von Ernst Ludwig Kirchner. EINZELPREIS DES HEFTES: 12,50 SCHILLING CHRISTLICHE KUNSTBLÄTTER, Eigenfümer, Verleger und Herausgeber; Diözeson-Kunsfverein, Linz a. d. Donau, Herrensfrafje t9. Schrifileiter: Dr. Günter Rombold. — Für die Diözese St. Pölten: Prälat Dr. K. B. Frank, St. Pölten, Domplatz 1. — Der Jahrgang besteht aus 4 Heften. Bezugspreis für den ganzen Jahrgang: 50 S. Postscheckkonto Wien 26.090; für das deutsche Bundesgebiet tO DM, Postscheckamt München, Konto Nr. 120.088; für das übrige Ausland 2 .if — Überweisungen ous dem Ausland werden erbeten an die Bank für Oberösterreich und Salz burg, Linz, Konto Nr. 683. Druck: Jos. Feichlingers Erben, Linz. — Klischees: Franz Krammer, Linz.
Inhaltsverzeichnis 1958 - 96. Jahr HEFT 1 DIE SEMINARKIRCHE IN LINZ Josef Perndl DER KIRCHENBAUMEISTER WERNER GROH Dr. Leonhard Küppers 7 WOHIN KAMEN DIE GOTISCHEN UND BAROCKEN KIRCHENEINRICH TUNGEN? Dipl.-Ing. P. G. Engelhardt 10 FREILEGUNG DER ROMANISCHEN FRESKEN IN LAMBACH Dr. Norbert Wibiral 14 DAS APSISMOSAIK IN DER KIRCHE VON ST. GABRIEL P. j. Kraus S.V.D 15 „DAS GROSSE HALLELUJA" Dr. Ottokar Blaha 15 DIE BRONCETDRE AM HAUPTPORTAL DES GROSSMÜNSTERS IN ZÜRICH Dr. Ekkort Sauser 17 NACHRICHTEN AUS ALLER WELT 18 KRITIK 19 BUCHBESPRECHUNGEN ZI HEFT 2 ÖSTERREICHS BEITRAG ZUM NEUEN KIRCHENBAU Herbert Muck SJ DAS CHRISTLICHE BILD HEUTE - MAGIE UND MYSTIK Prof. Dr. Lothar Schreyer 8 IL BEATO ANGELICO Dr. Ekkort Sauser 11 DER HOCHALTAR IN RECHBERG Georg GrOll 14 DIE SALZBURGER BIENNALE Dr. Wieland Schmied 17 DIE NEUEN FRESKEN IN ENGELSZELL Dr. Otto Wutzel 19 DIE GLASGEMÄLDE DER BINDERMICHL-KIRCHE IN LINZ Dr. Ottokar Blaha 20 OSKAR KOKOSCHKA — EIN „KLASSIKER" DER GEGENWART Curt Grützmacher 22 KRITIK 24 BUCHBESPRECHUNGEN 26
Inhaltsverzeichnis 1958 - 96. Jahr HEFT 3 DIE KIRCHE IM ZEITALTER DES BAROCK Prof. Dr. Josef Oswald LITURGISCHES LEBEN IM BAROCK Prof. Dr. Josef Andreas Jungmann SJ 4 ST. MICHAEL IN MÜNCHEN - ZUR RELIGIÖSEN STRUKTUR UND IKONOLOGIE DES BAUWERKS Dr. Herbert Schade SJ 11 DIE ENTSTEHUNG DER KIRCHLICHEN BAROCKMALEREI IN ROM UND IHRE AUSBREITUNG Dr. Günther Heinz 24 DIE BIENNALE CHRISTLICHER KUNST Dr. Wieland Schmied 28 KRITISCHES ZU NEUEN KUNSTAUSSTELLUNGEN Dr. Leonhard Küppers 30 ZAUBER DER ZERBRECHLICHKEIT Dr. Günter Rombold 31 KRITIK 33 BUCHBESPRECHUNGEN 36 HEFT 4 MALEREI DER GEGENWART 1 FLÄCHE UND RAUM IN DER GEGENSTANDSFREIEN MALEREI Kurt Leonhard, Stuttgart 2 DIE KUNST DER FORM- UND FARBENSPRACHE Oskar Schlemmer 7 DIE SAMMLUNG DR. MAX FISCHER Dr. Günter Rombold 8 NATUR UND LANDSCHAFT IM WERK ERNST LUDWIG KIRCHNERS Dr. Annemarie Heynig, München 11 DIE „CHASSIDISCHE BOTSCHAFT" IM WERK MARC CHAGALLS Curt Grützmacher, München 16 LYONEL FEININGER — VOM ERKENNTNISBILD ZUM SYMBOL Prof. Dr. Lothar Schreyer, Hamburg 18 BILDER-VERZEICHNIS 24 DAS FORUM Film — die neue Kunst? (Dr. Rudolf Malik) 25 Zur Kandinsky-Ausstellung in Köln (Dr. Leonhard Küppers) 28 Zehn Jahre Neue Galerie Linz (Walter Kasten) 29 BUCHBESPRECHUNGEN 30
Edvard Münch, Krankenzimmer Zur Einführung Malerei der Gegenwarf / s gibt heute kaum ein Thema, das heftiger diskutiert wird als die moderne Kunst. Man kann allerdings nicht behaupten, daß solche Diskussionen im allgemeinen sehr sachlich geführt werden. Mei stens bilden sich zwei Parteien: auf der einen Seite stehen die ewig Konservativen, auf der anderen die ewig Modernen. Das ist eine unglückliche Fronten bildung. In der Kunst sollte es zuerst immer um das Gute, Qualitätvolle gehen. Die Qualität von Kunstwerken zu erkennen, ist eine besondere Begabung. Dazu muß aber immer noch eine Vertrautheit mit der je besonderen Kunst kom men, die nicht ohne längere Beschäftigung und nicht ohne eine immer wiederholte Begegnung mit den Ori ginalen erworben wird. Nur auf diese Weise kann man sich über das Charakteristische einer Kunst richtung oder eines bestimmten Künstlers klar werden. Eine erste Frucht solch intensiver Bemühung und zu gleich die Voraussetzung jedes weiteren tieferen Ein dringens ist die Erkenntnis der formalen Gesetz lichkeiten, die der Kunst eines Einzelnen, eines Volkes oder einer Zeit zugrunde liegen. In der Malerei sind das die Gesetze, nach denen der Künstler — meist unbewußt, intuitiv — die Elemente, nämlich Farbe und „Form" (im engeren Sinn) verwendet. Es ist leicht erkennbar, daß sich die Malerei unserer Zeit grundlegend von allem unterscheidet, was die Malerei des Abendlandes seit Beginn der Renaissance
hervorgebracht hat. Was die Farbe anlangt, so ist die Herrschaft des „Heildunkel" schon im 18. Jahrhundert erschüttert, im 19. jedoch in einem langwierigen Pro zeß endgültig gebrochen worden. Ebenso läßt die Mo derne — im Bereich der „Form" — dos klassische Kompositionsschema außer acht und verzichtet auf die Schaffung eines illusionistischen Bildraumes nach den Gesetzen der Zentralperspektive. Bedeutend schwie riger ist es zu sagen, welch eigene Gesetzlichkeiten die moderne Malerei erarbeitet hat. Es gibt auf diesem Gebiete bisher keine grundlegende Studie. Umso dankbarer begrüßen wir den Beitrag von Kurt Leon hard zum Thema: „Fläche und Raum in der gegen standsfreien Malerei." Eine zweite Grundvoraussetzung für ein tieferes Eindringen in eine je besondere Kunst ist eine Kennt nis der Künstler, ihrerZiele und Bestre bungen. Es gibt nun keine Zeit in der Geschichte der Kunst, in der die Künstler soviel über sich selbst reflektiert und auch geschrieben haben, wie in den letzten Jahrzehnten'). Da nicht mehr ein besonderer Stand als Mäzen für die Kunst auftritt, muß der Künstler schwerer um Anerkennung ringen, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Um so wichtiger sind daher für ihn — und zugleich für das Verständnis der modernen Kunst — die Menschen, die seinen Weg be gleitet und die oftmals als Bahnbrecher gewirkt haben: die Sammler und die Kritiker. Ober die Frage, welcher Werf solchen Selbsfoussogen von Künsflern beizumessen isf, wollen wir uns hier nichf verbreifen. Ohne Zweifel sind Kunstler off ihre schlechfesfen Interpreten, weil dos, was sie schaffen, umfassender Isf, als das, was sie wissen. Dodi gibt es auch den anderen Fall, besonders bei Künsflern mif einem scharfen, kritischen Intellekt. Wir sind in der glücklichen Lage, in diesem Heft ein besonders wertvolles Dokument zum erstenmal der Öffentlichkeit vorlegen zu können: einen Aufsatz von Oskar Schlemmer aus der wichtigen Zeit unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg über „Die Kunst der Farbund Formensprache". Neben ihn stellen wir einen Sammler, der einige seiner schönsten Werke besitzt: Dr. Max Fischer. Beide stehen hier nicht als Vertreter eines modernen Extremismus, der „modern ist um des Modernen willen", vielmehr haben beide auch in der Moderne nur höchste Qualität gelten lassen. Erst nach Erarbeiten all dieser Voraussetzungen kann man sich die Frage vorlegen, was die moderne Kunst bedeutet. Diese Frage kann von uns in die ser allgemeinen Form heute noch nicht beantwortet werden. Uns bietet sich vorläufig noch eine Fülle ver schiedener Richtungen und individueller Verwirk lichungen dar. Wir greifen in diesem Heft drei von einander völlig verschiedene Meister heraus: E. L. Kirchner, Marc Chagall und Lyonel Feininger. Zwei von ihnen sind für uns noch in einer beson deren Weise wichtig: ihre Kunst dringt in den Be reich des Religiösen vor. Chagalls Kunst geht aus dem jüdisch-chassidischen Glauben seiner Kindheit hervor. Eine solch direkte Aussage liegt nicht im Bereich der Möglichkeiten Feiningers: er gibt Symbole, Chiffren, die auf das Unsichtbare hinweisen. Es gibt in unserer Zeit aber auch Künstler, die in der Bildsprache unserer Zeit nicht nur religiöse, sondern spezifisch christliche Kunst geschaffen haben. Wir den ken etwa an Georges Rouoult und Alfred Manessier. Auf diese wirklich große christliche Kunst unserer Zeit möchten wir in einem späteren Heft eingehen. Kurt Leonhard, Stuttgart Fläche und Raum in der gegenstandsfreien Malerei y'"? ^ie eigentliche Realität eines Bildes ist nicht ydie Seeschlacht oder die nackte Frau, die es darstellt, sondern die mit Farben und Formen in einer bestimmten Anordnung bedeckte Fläche. Mit diesem Satz hatte der Maler Maurice Denis nicht nur die Erfahrungen Gauguins, van Goghs und Cezannes auf eine Formel gebracht, sondern er hatte zugleich den Weg zurückgefunden zur Frömmigkeit der gotischen Goldgrundmalerei. Darüber hinaus ist dieser Satz die Grundlage einer neuen Gattung der Malerei, von der Maurice Denis noch nichts wissen konnte, nämlich der sogenannten gegenstandsfreien (oder ab strakten oder konkreten oder absoluten) Malerei. Wir verstehen darunter jene Malerei, die keine andern Realitäten darstellen will als die der Bildfläche, des Bildmaterials und der Strukturzusammenhänge des Bildes — es sei denn jene unsichtbare, inkommen surable Realität, die aus der Wirkung bestimmter Kombinationen von Farben und Formen auf unsere Sensibilität entsteht: das „Geistige in der Kunst", das eigentlich immer gemeint ist, wenn von „Punkt und Linie zur Fläche" die Rede ist. Selbstverständlich sind also die Probleme, die spä testens seit der Renaissance durch den Konflikt von Fläche und Raum in die Kunstgeschichte gebracht wurden, keine bloß technischen oder artistischen Pro bleme. Es sind Probleme der Welt-Anschau ung: — Anschauung, Durchschauung, überschau. Einschau, Auseinanderschau, Zusammenschau . . .
Die Raumdarstellung von der Renaissance bis zum Impressionismus war auf die zentralperspektivische Illusion gerichtet. Die neue Wahrhaftigkeit des „aper spektivischen Zeitalters" verabscheute die Illusion und predigte die Realität im Sinne des Ausspruches von Maurice Denis. Und die erste gegenstandsfreie Malerei predigte die „heilige Fläche" — das heißt die unverletzbare, die unbedingt zu respektierende reale Gegebenheit der Bildfläche. Nach ihren An fängen um 1910 hat nun aber die gegenstandsfreie Malerei eine Entwicklung durchgemacht, die sie weit von ihren ersten Zielen fortgeführt hat. Was ist also heute aus der „heiligen Fläche" geworden, die sich einst in den Ateliergesprächen sieghaft an die Stelle der „göttlichen Perspektive" gesetzt hatte? Heute ist der Streit um die gegenstandslose Malerei selbst „gegenstandslos" geworden. Zwar ist es nicht so, wie eine törichte Parole es neuerdings glauben machen möchte: es gibt nichts, was auch nur im ent ferntesten einer „Diktatur der Abstrakten" ähnlich sähe. Immer noch sind natürlich die üngegenständlichen in der Minderheit, und niemand hindert die Gegenständlichen, auszustellen und zu verkaufen, nie mand spricht ihnen die Lebensberechtigung ab. Die Kritiker haben sich darauf geeinigt, daß die „ab strakte Malerei" nichts anderes ist als eine Kunstgat tung wie das Figurenbild, die Landschaft, das Still leben, wenn sie auch der Mentalität unserer Zeit allen Anzeichen nach fast ebenso sehr zu entsprechen scheint wie das Figurenbild der Mentalität des Mittel alters oder die Landschaft der Mentalität der Roman tik. Die Minderheit der gegenstandsfreien Maler hat sich seit 1945 auch in Deutschland immer mehr durch gesetzt und ist in den Vordergrund des Interesses der ernsthaften Sammler gerückt. Und dadurch, daß hier zum erstenmal in der Kunstgeschichte ernst gemacht wurde mit dem transzendentalen Sinn der Ebenbild lichkeit des Menschen — denn diese Ebenbildlichkeit war bei Moses auf einen unsichtbaren Gott bezogen! —, erscheint diese neue Gattung der Malerei dem Pater Regamey sogar als die religiöse Kunst der Zukunft. Noch vor einigen Jahren konnte man bei führenden Meistern der Abstraktion den Eindruck haben, der Gegenstand solle gewissermaßen durch die Hintertür formaler Assoziationen wieder einge führt werden. Fast alle diese Maler (z. B. Nay, Ritsehl, Baumeister, Meistermann, Ackermann, Manessier, Singier, Esteve u. a.) sind aber zu einer im strengen Sinn absoluten Gestaltung zurückgekehrt oder fortgeschrit ten. Daneben begrüßt man auf den großen, gemisch ten Ausstellungen neue Ansätze einer betont schlich ten Gegenständlichkeit. Es scheint also, daß an Stelle der eine Zeit lang propagierten „Synthese" eine Koexistenz zu treten scheint, im Sinne jenes gleichen Synkretismus, dem wir nicht erst seit der Jahrhundert mitte auf allen Gebieten begegnen. Und schließlich ist die gegenstandsfreie Malerei als Gesamtgattung längst nicht mehr revolutionär und auch weit davon entfernt, eine einheitliche Front zu bilden. Innerhalb der ungegenständlichen Bildgattung gibt es längst Konservative, die vor dem Neuen, das die letzten Jahre brachten, den gleichen Schock erfah ren und bekunden wie die biederen Impressionisten vor den ersten Werken Kondinskys oder die biederen Realisten vor den ersten impressionistischen Bildern. Die Aufeinanderfolge der Stilstufen innerhalb der seit fast fünfzig Jahren bestehenden Gattung der absoluten Malerei ist noch wenig untersucht worden. Das wird auch dadurch erschwert, daß fast alle erprobten Stilmöglichkeiten heute noch durchaus gleichberechtigt nebeneinander fortbestehen. Ich kann hier nur versuchen, eine sehr weitmaschige Skizze der Entwicklung zu geben. Wie ich es bereits 1953 in meinem Buch „Augen schein und Inbegriff" nachgewiesen habe, ist die gegenstandsfreie Malerei von 1910 bis 1950 durch alle Stufen der Wölfflinschen Stilbegriffe hindurchgegan gen. Diese Analogie ist allerdings ungenau und er gänzungsbedürftig, da ja die Entwicklungsziele der aperspektivischen Malerei von denen der perspek tivischen grundverschieden sind, vor ollem aber weil jeder Augenblick der geschichtlichen Zeit alle früheren Augenblicke in sich enthält. Die beiden Grenzwerte der illusionslosen Zweidimensionalität einerseits und der räumlichen Tiefenillusion andererseits treten selten in absoluter Reinheit auf. Merkwürdig ist aber, daß mindestens in Deutschland und Rußland die ersten Phasen der gegenstandsfreien Malerei in gewisser Hinsicht die stilistischen Entwicklungsergebnisse des Impressionismus und Kubismus rückgängig gemacht haben. Impressionismus und Kubismus hatten nämlich jeder auf seine Weise die Abgrenzung von Einzelform und Grundfläche aufgehoben. Diese Dualität (Figur und Raum), eigentliches Prinzip der klassischen Kompo sition, überwand der Impressionismus durch Auf lösung der Form und des Grundes in Elementarfarben, der Kubismus durch Auflösung von Volumen und Raum in Elementarformen. Dos letzte Resultat war einerseits die mit Flecken bedeckte Fläche, auf der die Umrisse völlig verschwunden, die Formen der Dinge nur noch Modulationen der Farbe und des Lichtes waren, andererseits der polyphon-prismatische Raum, der alle Formen um Achsen kristallisierte, alle Umrisse aufsplitterte und aus den Dingen Schnitt punkte kosmischer Strahlen machte. Mit der Ent deckung der neuen Möglichkeit einer auf Gegen stände, also auch auf räumliche Darstellung verzich tenden Malerei, stellte sich nun zunächst das Problem von Elementarform und Elementarfläche völlig neu. Noch nie vorher war die Fläche so ausschließlich, so von jedem Darstellungszwang unbeeinträchtigt, die gegebene Realität, mit der sich der Maler ausein-
andersetzen mußte. Was lag näher als eine Umdeutung der bisherigen traditionellen Beziehung „Figur zu Raum* in die Beziehung „Punkt und Linie zu Fläche"? Die gesamte Malerei Kandinskys ist An ordnung von Grundformen auf der Grundfläche. Er bediente sich zwar zunächst, vor dem ersten Weltkrieg, noch weitgehend der impressionistischen Technik, aber schon seine ersten gegenstandsfreien oder fast gegenstandsfreien Bilder zeigen, daß er keineswegs das einheitliche Flecken geflecht des reifen impressionistischen Bildes im Auge hatte, sondern danach strebte, die Tupfen und Flekken, mit deren Hilfe der Impressionist die geschlos sene Einzelform aufgelöst hatte, wieder zu deutlich isolierten, spannungsvoll gegeneinander ausgespielten Formen und Formengruppen zusammenzuballen. Da durch kam auch die Grundfläche, die leere Unend lichkeit zwischen den Formen, wieder zu Worte, als zweite Stimme, oder, wenn man den Farbfleck und die emanzipierte Linie als zwei Stimmen nimmt, als die dritte. Besser noch: als das Schweigen, die Pause, die Stille zwischen der musikalischen Abfolge der Formen und Farben. Diese „musikalische" Phase der gegenstandsfreien Malerei — die sich auch gern musikalischer Titel und Methoden bediente — realisierte Kandinsky unübertreffbar. Aber fast in allen seinen Werken, und gerade in seinen bedeutendsten — verharrt er auf der Stufe des additiven Vielfaltsbildes, das gerade in seinem Spätstil Triumphe feiert. Isolierte Formen, Zeichen und Zeichengruppen tanzen auf der einheitlichen Grund fläche, scheinen einander zu begrüßen oder zu be kämpfen, zu begegnen oder zu fliehen, sich zu Schwärmen zu sammeln oder in den leeren Raum zu zerstreuen. (Abb. 1.) Nur in wenigen Bildern kommt Kandinsky in die Nähe jener „hochklassischen" Verein fachung, jener großdekorativ zu einer zusammenhän genden Figuration zusammengefaßten Zentralkompo sition, wie sie etwa ein Magnelli, ein Th. Werner, ein Otto Ritsehl in den vierziger und fünfziger Jahren aus bilden. Schon auf dieser Stilstufe wird der Flächen aufbau komplizierter. Kandinskys Wort, die Grund fläche sei „ausziehbar wie eine Ziehharmonika" zeigt erst jetzt seine ganze Tragweite. In den reifen Wer ken von Ritsehl, besonders aber auch im Spätwerk von Baumeister (Montaru-Serien) und in den jüngsten Bildern des siebzigjährigen Max Ackermann, gibt es verschiebbare Flächen innerhalb der Fläche, die ineinanderzugleiten und eine kurze Raumtiefe zu schaffen scheinen. In Ackermanns Bilderreihe mit dem Titel „Oberbrückte Kontinente" ist das eigent liche Thema ebenso wie in den Montoru-Bildern Bau meisters der Gegensatz riesiger flächenhafter Formen zu kleinen, zierlichen Formranken. Aber während bei Baumeister der große schwarze Vorhang die Bildmitte einnimmt, ringsherum von Raum umgeben, und bunte Kleinformen, die nur Begleitung sind, teils verdeckt. teils freigibt, handelt es sich bei Ackermann ganz im Gegenteil um weite schwarze oder farbige Flächen, die von jenseits des Rahmens in das Bild hineinragen und sich bis auf einen leuchtenden Kanal zusammen schieben, der von jenen zarten Formen überbrückt wird, die als das eigentliche Hauptthema anzusehen sind. In manchen Fällen scheint sogar der „Kanal" zwischen den „Kontinenten" selbst zu einer positiven Form zu werden. Orange zwischen Schwarz, das irdische Bild durch die Suggestion eines Raketenfluges zum Kosmischen weitend. (Abb. 2.) An solchen Bildern wird es ablesbar, daß wir „an der Schwelle des Welt raumzeitalters" stehen. Aber schon in der nächsten Generation, bei E.W. Noy und Fritz Winter zum Beispiel, finden wir ausgespro chen barocke Bewegungskompositionen in diagonalen Zusammenfassungen, immer noch unter Wahrung des Grundgegensatzes von Form und Fläche, jedoch schon mit bewußter Ambivalenz von „positiven" und „nega tiven" Formen. Ein Schritt weiter, und die Zwischen formen werden zu Hauptformen, Hintergrundausschnitte und Vordergrundelemente werden austausch bar, alle Einzelformen in die einheitliche Gesamt struktur eingeschmolzen und der formbildende Gegen satz von Grundfläche und Bildelement restlos auf gelöst. Dann spricht man nicht ohne Berechtigung von „abstraktem Impressionismus". Wenn aber dieser Aus druck für die Fleckenmalerei des sogenannten „Tachismus" angewandt wird, um eine radikal malerische Dynamik zu bezeichnen, dann sollte man mit dem gleichen Recht die lineare Dynamik der gleichzeitig ausgebildeten rein geometrischen Abstraktion eigent lich „abstrakter Kubismus" nennen dürfen. Beide Be nennungen treffen natürlich, wie alle Vergleiche, nur eine Seite der Phänomene und sind unfähig, die ein malige, nicht wiederholbare Wesenstiefe zu bezeich nen. Das große Thema von Impressionismus und Kubis mus, die Auflösung der geschlossenen Formen, das Ineinander-übergehen von Bildform und Bildgrund, war in der gegenstandsfreien Malerei schon einmal gegen Ende des ersten Weltkrieges zum Durchbruch gekommen: im Werk eines einsamen Vorläufers, des sen eigentliches Wollen erst heute verstanden zu werden beginnt. Mondrian war es, der die „architek tonische" Phase begründete (neben der aber die „musikalische" auch heute noch besteht). Diesem philosophischen Geist war es um nichts Geringeres zu tun als die Überwindung des Tragischen durch Ein rasten allen individuellen Lebens in das universelle Sein. Die Schlüsselform Mondrians ist das Kreuz ■— als Gleichnis der offenen Existenz, in deren Raum die Gegensätze von Mensch und Welt, Einzelnem und Gemeinschaft, aktivem und passivem Sein zum Aus gleich kommen. Aus vertikalen und horizontalen Linien — jede Diagonale wird verpönt — entsteht eine Gitterordnung ineinanderübergeführter Rechtecke,
deren klare Statik jedes chaotische Element tilgt, ob gleich ihre eigentliche suggestive Wirkung darin liegt, daß sie keinerlei Grenzen anerkennen, auch nicht die Begrenzungen des Bildrahmens, den ihre Expansion in große Weiten, ja ins Unendliche hinaus transzendiert. Auf Mondrian läßt sich jedenfalls das Wort „ab strakter Kubismus" keineswegs anwenden, sofern man den dramatischen Konflikt splitternder Bildelemente zwischen Raum und Fläche für untrennbar mit jedem Kubismus verbunden hält. Mondrians Malerei ist die einseitig extremste Verwirklichung völlig undrama tischer, konfliktloser — wenn auch nicht spannungs loser — Zweidimensionolität. Von der Zweiheit Grundform-Grundfläche ist bei ihm nichts mehr geblieben; keine Anordnung von Formen auf der Fläche, nur noch die architektonische Aufteilung der Fläche selbst. Das unterscheidet Mondrian auch von allen russischen Konstruktivisten und sogar von den meisten seiner eigenen Freunde und Schüler. Mag Malewitsch früher als Mondrian die elementare Gleichnisfunktion des Kreuzes (als Zeichen des offenen Raumes) und der daraus abgeleiteten Rechteckform begriffen haben: die Kreuze und Quadrate des Rus sen schwimmen noch isoliert in der Einsamkeit der leeren Grundfläche, nicht anders als bei Kandinsky. Mondrian ist aber nicht nur der Statiker des rechten Winkels, weit wichtiger noch ist er als Entdecker des „rhytme libere", des befreiten Rhythmus, der beson ders seinen letzten New-Yorker Bildtafeln einen neuen dynamischen Charakter gibt. Sein Satz: „La forme limitee est une entrave ä l'expression du rhytme pur" — „die abgegrenzte Form ist ein Hindernis für den Ausdruck des reinen Rhythmus" — hilft uns heute sogar, die jüngste, Mondrians Stil scheinbar so entgegenge setzte, radikal „malerische" Phase der absoluten Ma lerei zu verstehen, ja er läßt uns das Gemeinsame er kennen, das den Impressionismus mit dem Kubismus oder den geometrischen mit dem malerischen Dynamismus (so unerbittlich sie einander bekämpfen mögen) verbindet. Das Gemeinsame ist, wie gesagt, die Aufhebung der Dualität von Form und Fläche. Das Unterscheidende ist die Herkunft einerseits von der klassizisti schen Linie Ingres, Gauguin, Kubismus, Bauhaus, Konstruktivismus, andererseits von der romanti schen Linie Delacroix, van Gogh, Jugendstil, Expres sionismus, Surrealismus. Beide Linien sind seit Jahr hunderten in der europäischen Kunstgeschichte gleich zeitig nebeneinander und gegeneinander wirksam. Sehr viel revolutionärer allerdings als die rein geo metrische Malerei erscheint die mit allen Explosiv stoffen der Romantik, des Expressionismus und des Surrealismus geladene „informelle" Kunst, wie sie in Frankreich genannt wird, „action painting", wie man in Amerika sagt, während sich bei uns das zu enge und nur vom äußerlich Technischen abgeleitete Wort „Tachismus" eingebürgert hat. Sie dürfte die einzige wirklich neue Stilrichtung der Malerei sein, die nach dem zweiten Weltkrieg auftrat. Wie andere Stilrevo lutionen legitimiert sich auch diese schon äußerlich historisch dadurch, daß sie an ganz verschiedenen Stellen des Planeten unabhängig geschaffen wurde: vor allem in Paris durch den deutschen Emigranten Wols (Wolfgang Schulze), in dessen Arbeiten heute wohl jeder vorurteilslose Betrachter das Signum des Genies erkennt, und in den gleichen Jahren 1944/45 in Kalifornien durch J. Pollock und seinen Freundeskreis. In Deutschland, das nach 1945 so vieles nachzuholen hatte, ist diese künstlerische Bewegung erst in den letzten Jahren bekannter geworden. Die deutschen „Informellen" haben sich zu Freundesgruppen und Ausstellungsgemeinschaften zusammengeschlossen und bedienen sich der verschiedensten Kennworte, unter denen eines der bizarrsten die Wortverbindung „aktiv-abstrakr" ist, die in Anlehnung an das sprach lich einwandfreiere amerikanische „action-painting" besagen will, daß es hier auf die Tätigkeit des Malens ankommt, eine Versichtbarung also des schöpferischen Prozesses unter Verzicht auf ästhetisch gepflegte Ergebnisse, unter Verzicht sogar auf Werke im alten Sinn von harmonischen Komposi tionen. Kandinskys Benennungsvorschlag „kompositionelle Malerei" kann also nicht mehr beanspruchen, die gesamte gegenstandsfreie Malerei zu umfassen. Die Neuen komponieren nicht mehr, es geht ihnen um Probleme der „Dekomposition"; sie setzen nicht mehr einzelne Bildelemente zusammen, sondern sie schmel zen jede Andeutung von Einzelformen ein in den großen Strom des entfesselten Rhythmus. Also, nach der Terminologie Wölfflins, eine extrem „offene" Ma lerei, offen bis zum Verzicht auf alle irgendwie ab gegrenzten Formen. Gewiß erinnert diese „impressio nistische" Technik turbulenter Flecke und nervöser Graphismen an die ersten gegenstandsfreien Impro visationen Kandinskys von 1911 — der Improvisations charakter ist nur noch herausfordernder, ermutigt durch die Lehren des Surrealismus bis zur „gratuite" des „psychischen Automatismus". Doch bei Kandinsky strebten schon in seinen frühen Phasen alle Flecke und Fleckengruppen danach, sich vor der Grundfläche zusammenzuballen, sich zu isolieren, sich zu individua lisieren. Damit ist es nun vorbei — und also auch mit der Auffassung der verbindlichen Grundfläche, die sich seit Kandinsky so lange als Axiom gehalten hatte. Es gibt natürlich keine Wiederkehr eines zentralperspek tivisch erschließbaren Raumes. Die Bildfläche weitet sich aus eigenster Kraft der Bildmittel zu einem un endlichen irrationalen Spielraum voll gewaltiger Kontraste, Tiefen und Höhen, der auch mit der „kur zen Tiefe" Baumeisters nichts mehr zu tun hat. Es ist ein barocker, romantischer Raum, ekstatisches Erleb nis, durch Helldunkel und bewegte kaltwarme Farb massen suggeriert, nicht selten zu wirklichem Relief
aufgeworfen. So verhält es sich jedenfalls in den Bil dern der meisten jungen Deutschen — ich nenne nur Emil Schumacher, Bernard Schultze, Reich an der Stolpe (Abb. 3), Peter Brüning —, während bemerkens werterweise die Pariser und Amerikaner in überwiegen der Mehrzahl die dritte Dimension vermeiden und eine rhythmisch vibrierende, aber betont planimetrische Oberflächengestaltung erstreben. Das auffallend We sentliche ist aber hier wie dort die völlige Auflösung und Einschmelzung aller Teilformen in den Bildrhyth mus, was eben die Kennzeichnung als „informel" be sagen will. Positiv ausgedrückt, heißt das: struk turelle Malerei. Diese Aufhebung der individuellen Einzelform im Bild, dieses Zurückführen oller Einzelfälle und Einzel wesen des Lebens auf eine „universelle Realität" (Mondrian) bedeutet aber keineswegs etwa gleichförmigen Kollektivismus. Im Gegenteil: dadurch, daß die Teilformeh aufgehoben wurden, ist dos Bild erst recht ein Ganzes geworden, ein Unteilbares — eine Indi vidualität also, oder vielmehr der unverwechselbarste Ausdruck der Individualität seines Urhebers. Gerade jene Bilder, die eine „Entindividualisierung der For men" anstreben, erreichen also eine besonders reine Individualität des Gesamtausdrucks. Das gilt bereits von den Werken Mondrians, deren jedes ebenso s i ngulär in seiner Form wie universell in seiner Thematik ist, und es gilt natürlich in eklatantester Weise bei den sogenannten „abstrakten Expressio nisten", wie sich die strukturellen Maler in Deutsch land bisweilen auch nennen lassen. Das widerspricht keineswegs dem Hauptziel dieser Kunst, das mir nichts anderes zu sein scheint als die Überwindung der Iso lierung des individuellen Ich. Denn dieses individuelle Ich, so fraglos es das Bild durchatmet und seine Rhyth mik bestimmt, es fühlt sich nicht als abgeschlossene Einzelform, sondern als Schnittpunkt kosmischer Strah len, alle seine Regungen kommen von weit her — von weit außerhalb des Bildrahmens und von weit außer halb der Lebensspanne zwischen Geburt und Tod. Wirklichkeit ist offenes Ineinandergreifen alldurchwaltender Kräfte und Gesetze. Es wäre falsch zu meinen, der „Tachismus" be schränke sich nur auf Flecken und Fleckenstrukturen. Graphismen sind in den meisten Fällen unveräußer licher Bestandteil dieser Malweise, gerade bei Wols, der von Klee und den Surrealisten herkam. Und wenn es der „Malerei des Formlosen" aufgegeben sein mag, zwar dem scheinbar Unmenschlichen mutig standzu halten, aber doch immer wieder im andrängenden Chaos die kosmischen Rhythmen sichtbar zu machen, dann wird sie darauf angewiesen sein, aus Flecken und Graphismen eine Zeichensprache zu entwickeln, eine Sprache von Zeichen, eine Welt von Zeichen. So gibt es neben der eigentlich „strukturellen Malerei", und fließend mit ihr verbunden, eine neue „kalligra phische" Malerei, die ihre Aufgabe in der Herstellung mehr oder weniger einfacher Zeichen sieht. Ich denke an den Freiburger Julius Bissier, den Hamburger Son derborg, den Franzosen Souloges, den Amerikaner Alcopley und den Österreicher Arnulf Rainer. In dieser Sonderart der „informellen" Malerei hat die Grund fläche nicht nur alle ihre seit Kandinsky verbrieften Rechte bewahrt, sondern sogar einen neuen, an fern östliche Mystik erinnernden Wert hinzugewonnen. Handle es sich aber um den rein „strukturellen" oder um den rein „kalligraphischen" Tachismus, immer wird es darauf ankommen, ob bei oller scheinbaren Zufälligkeit eine wirkliche Gestaltung vorliegt, ob die Rhythmen durchgehalten, die Strukturen gemeistert, die Akzente richtig gesetzt sind, ob der Zufall dem unmittelbaren Ausdruck unserer psychischen Existenz dienstbar gemacht wurde, ob der Geist die Materie beherrscht oder ob umgekehrt der Gestaltungswille von bloßen Überraschungsreizen überrumpelt und paralysiert wird. Schlagworte wie „Ultraschallmalerei" oder „Elektronenmalerei" sind rasch zur Hand. Darüber hinaus wird es aber nötig sein, angemessene kritische Maßstäbe herauszubilden, die es für die frü heren Phasen der absoluten Malerei längst gibt. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß eine Malerei, die den äußeren Menschen als Bildgegenstand ausgeschieden hat, damit die Verpflichtung übernahm, den inneren Menschen um so überzeugender zu versichtbaren. Die Distanzierung vom Menschen als einem Objekt des Sehens ist nur zu rechtfertigen durch das Bestreben, ihm als Subjekt der Schau die größte mögliche Weite zu geben, die tiefste ümfassungskraft, das universellste Ausdrucksvermögen, ünd die Bild fläche des absoluten Bildes ist zwar nicht mehr der Spiegel der äußeren Erscheinungswelt, wohl ober blieb sie und wird sie bleiben: Gleichnis und Spielraum dieses rastlos noch Erweiterung und Vertiefung stre benden menschlichen Bewußtseins.
Oskar Schlemmer Die Kunst der Form- und Farbensprache /'T Nie Kunst der Form- und Farbensprache sollte ydurch sich selbst wirken und der Fürsprache des Wortes nicht bedürfen. Rechte Fürsprache wäre das Wort als Kunst in der Form der Dichtung, doch blieb nur neues Mysterium und der Wunsch noch Deutung unerfüllt. — Die Dinge der Kunst weben zart ineinander; Formulierungen und Systeme zer stören leicht das Beste. Doch sei die Kunst nicht ins Vage und Traumhafte gewiesen, innerhalb ihrer Welt hat sie ihre festen Formen und Gesetze. Von den Elementen des Kunstwerkes seien begrif fen: Idee als das Geistige, Stoff als Erscheinungsform des Geistigen, Form als gestaltete Materie, Mittel als Werkzeug zur Gestaltung, Objekt als Erscheinungs form der Natur, Natur pantheistisch, als Kraft. — Es ist also alles Natur, da alles wirkende Kraft ist und wie es ein Erlebnis der Natur gibt, gibt es ein solches des Objektes, der Mittel, der Form, des Stoffes, der Idee. Die Stellung der einzelnen Elemente zueinander, das Verhältnis ihrer Zusammensetzung bildete die Eigentümlichkeiten des Stils in der Kunst und die Revolutionen sorgten für den Kreislauf des Wechsels. Die neue Kunst hat das Objekt vom Thron gestürzt. Es hatte die Vorherrschaft in der naturalistischen Malerei, welche zuletzt im Gewand des Impressionis mus Höhen erreichte wie auch Abgründe, wie sie nur unserem Zeitalter vorbehalten scheinen. Nachbildung der Natur ist ein Unding und steht außerhalb des menschlichen Vermögens. Rundpanorama und Pan optikum sind Bemühungen, Natur in Lebensgröße nachzuahmen, die in einem bestimmten Maß von Künstlichkeit und gelungener Täuschung verebben. Wenn der menschliche Organismus mittels Räderwerk zu imitieren und auf einer Leinwandfläche die Illusion der Unendlichkeit zu erzeugen versucht wird, so ist daran wesentlich, daß es objektiv fremde, abstrakte Mittel sind, die angewandt werden. Die Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit und Grenzen in diesem Be streben führte den Künstler zur Beschränkung auf die Fläche, zur verkleinerten Wiedergabe, zum Natur ausschnitt, zum Bild. Mit der Einsicht, daß es nicht auf Nachahmung der Natur ankomme, sondern auf eine Umsetzung in die gegebenen Materialien, deren sich die Kunst zur Dar stellung bedient, begann ein Studium der Natur der Darstellungsmittel und ihrer Wirkungsmöglichkeiten. Dies führte zu den als Abweichungen von der Natur empfundenen Kunstformen, die zu Vergewaltigungen wurden, bei teilweiser oder gänzlicher Negation des Objektes zugunsten höherer Forderungen. Es entstan den Werke, in denen z. B. die Form gewissermaßen sich selbst genug und die Form die Idee war. Die Vervollkommnung der Photographie, dieser bis heute höchsten Instanz für absolute Objektivität, hat die Entwicklung der Kunst nach dieser Seite begünstigt und sie auf ihr eigentlichstes Gebiet gewiesen: von der dienenden Rolle der Reproduktion zum rein Schöpferischen. Die Darstellung des Menschen wird immer das große Gleichnis für den Künstler bilden. Hier der Mensch aus Fleisch und Blut mit der Mystik seiner Existenz, dort sein Widerspiel, in Kunst. Die Bedin gungen und Gesetze seiner physischen Existenz sind andere als die seiner künstlich-künstlerischen. Es sind die unserem physischen Organismus wesensfremdesten, nämlich: Projektion auf eine Fläche, auf eine recht winkelige und begrenzte Fläche — in Materialien wie Farbe, öl, Pinsel, Stift, Gips, Holz, Stein. Gleich der Ehrfurcht vor den Gesetzen des Lebens, gibt es eine solche vor den Gesetzen der Kunst, die in den Materialien begründet liegen, deren sich die Kunst bedient. Sie sind die Quellen jener als Abwei chungen von der Natur empfundenen Kunstformen, die zu Vergewaltigungen wurden bei teilweiser oder gänzlicher Negation des Objektes zugunsten anderer Forderungen. So konnten Werke entstehen, in denen z. B. die Form gewissermaßen um seiner selbst willen da, sich selbst genug ist. Vermochte besondere Hervorkehrung der Eigentüm lichkeiten dieser Materialien schon zur Zeit des Natu ralismus ganze Richtungen und Kunstperioden zu be stimmen: der Pointiiiismus der zerlegten reinen Farbe, die lasierende Asphaltmalerei, die Farbe wie Email und die pastose gemauerte Farbe Cezannes, die Pinselstruktur bei Trübner und die Spachtelungen Liebermanns, wo diese Mittel noch im Dienste der Objektivation hingenommen wurden, so brachte die Befreiung vom Objekt in der neuen Malerei und i.och stärkere Potenzierung dieser Mittel eine Welt neuer Möglichkeiten. Um ein ganz primäres zu nennen, die rechtwinkelige weiße Leinwandfläche ist ein solch zwingendes Faktum, daß ein nicht geringer zu bewer tendes Gefühl als das ehedem für das Objekt, den Künstler bestimmen konnte, sich in der Konzeption des Bildes vom Geist, von der Idee der Fläche leiten zu lassen und die im Rechteck gegebene Grundform als das Maß für alle auf sie projizierten Formen zu nehmen.
Nachdem sich In den Schwelgereien des Naturalis mus der Sinn und Zweck der Kunst totgelaufen hatte, war es nötig, wieder an die Grundelemente des künstlerischen Schaffens zu erinnern. So hat die neue Kunst alles Primäre, Primitive hervorgekehrt, und, die sichere Basis der Gegenständlichkeit verlassend, sich allem Einfachen, Früheren zugewandt: Bauernkunst, Negerstil, Kinderzeichnungen, Geometrie. Dort war die Quelle neuer Kraft, dazu die Quelle des größten: des Ich; die Verinnerlichung. Dieser bisher unveröffentlichfe Aufsatz Schlemmers stammt aus dem Jahre 1919. Frühere Notizen zum gleichen Problemkreis aus den Jahren 1917 und 1918 sind in dem soeben erschienenen Werk «Oskar Schlemmer, Briefe und Tagebücher' enthalten. Vgl. dazu unsere Besprechung auf Seite 30. Dr. Günter Rombold Die Sammlung Dr. Max Fischer auf einem der Hügel um Stuttgart erhebt sich das Haus Dr. Fischer. Unten, in der Mulde, dehnt sich die Stadt, und von der anderen Seite grüßt die Weißenhofsiedlung herüber. Es wurde zur glei chen Zeit wie diese erbaut, freilich nicht von einem Out, Gropius, Mies von der Rohe oder Le Corbusier, aber doch von einem begabten Berliner Architekten, der ihm außen eine klare und einfache Form, innen ober eine Folge lichter, weiter Räume gegeben hat. Diese Räume bergen heute eine der bedeutendsten deutschen Kunstsammlungen. Ich zähle es zu den glücklichen Fügungen meines Lebens, daß ich ihr Wachsen miterleben durfte. Anfang der dreißiger Jahre weilte ich, damals noch ein Kind, über ein Jahr im Hause Fischer und später kehrte ich oft und oft zu einem Besuch zurück. Schon um 1932 hotte das Haus seine Einrichtung, die es im wesentlichen bis heute behielt. Schöne große Orientteppiche geben den Räumen Farbe und Wärme. Die Möbel stammen vorwiegend aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert; die ganze Entwicklung von der schwe ren Renaissancetruhe bis zur eleganten Rokokokom mode läßt sich an ihnen ablesen. Auf den Kommoden fand sich manches schöne Stück, so etwa eine herbe burgundische Madonna aus dem 12. Jahrhundert, die noch heute ein Glanzstück der Sammlung bildet, ein prachtvoller gotischer hl. Sebastian und weitere Pla stiken vorwiegend schwäbischer Provenienz. Unter den Bildern an den Wänden hingen schon damals — neben einigen gotischen Tafeln — viele „Moderne". So etwa ein früher Schlemmer („Stuttgart"), der noch ganz die Herkunft von Cezonne verrät, ein Carl Hofer aus dessen bester Zeit („Zwei Mädchen"), ein Ko koschka, der im Oeuvre des Meisters eine Sonderstel lung einnimmt („Stubenmädchen"), zwei preziöse Aquarelle von Paul Klee („Botschaft des Luftgeistes", „Selbstmord eines Stubenmädchens"). Die phantasti sche Welt Kubins — der übrigens einige Wochen im Hause Fischer zu Gast war — wurde durch viele her vorragende Federzeichnungen vertreten, die die Auf merksamkeit aller Besucher erregten. Das Erstaunliche dieser Sammlung war — und ist es bis heute geblieben —, wie alle diese Werke zu einer Einheit zusammenwuchsen. Da standen nicht Einzel stücke aus verschiedenen geschichtlichen Perioden ver loren im Raum, wie in vielen Museen, vielmehr wurden sie alle durch eine geheimnisvolle Kraft gegenwärtig und damit lebendig. Das lag nicht nur daran, daß in diesen Räumen gewohnt wurde, die Kommoden einen bestimmten Zweck hatten, die Figuren und Bilder durch stetes Anschauen innerer Besitz der sie umgebenden Menschen wurden. Der tiefere Grund dafür war der, daß hier Kunstwerke gesammelt wurden, die nicht nur interessant oder wertvoll, sondern einer solchen Ver gegenwärtigung fähig waren. Das ist das eigentlich einheitsstiftende Prinzip der Sammlung. So konnte die Sammlung auch immer wieder erwei tert werden, und zwar teilweise in ganz neuen Rich tungen, ohne daß ihre innere Einheit gestört wurde. Eine solche Erweiterung brachten die späteren dreißiger Jahre: Fayencen des 18. Jahrhunderts aus den besten deutschen Manufakturen wurden angekauft und füllten bald zwei Schränke. Daneben kamen auch schöne gotische Plastiken dazu; so ein innig-trauernder Johannes aus der Zeit der Mystik und ein schöner Altarschrein mit der seltenen Darstellung des „Ecce homo". Aber dann kam der Krieg. Während Dr. Fischer — wie schon im ersten Weltkrieg — als Fliegeroffizier auf fernen Kriegsschauplätzen weilte, wurde sein Haus zum Teil zerstört. Die Kunstschätze waren glücklicher weise vorher geborgen worden; allerdings wurden in den Wirren des Jahres 1945 einige der schaurig schönen Kubinblätter entwendet; manche von ihnen tauchten wieder auf, die meisten jedoch waren und blieben endgültig verloren. Aber dafür kam nun auch Neues hinzu. R. N. Ketterer hatte in diesen Jahren das Stuttgarter Kunstkabinett geöffnet und brachte
% mk E. L. Kirchner, Staffelalp manch erstklassiges Stück zu seinen Auktionen. Hier konnte Dr. Fischer jetzt Bilder und Graphiken sehen, die jahrelang als „entartete Kunst" verpönt und nicht mehr erreichbar gewesen waren. Wichtige Werke wurden von ihm noch erworben, ehe die Preise für moderne Kunst unerschwinglich geworden waren. Dabei verlagerte sich das Schwergewicht der Samm lung immer mehr auf die Moderne, genauer gesagt auf den Kreis der Brücke, des Blauen Reiter, des Bau hauses und die großen Einzelgänger Nolde, Ko koschka, Max Beckmann. Das besagt nicht, daß die Gotik durch sie verdrängt wurde: ganz im Gegenteil. Jetzt erst erwies sich die tief-innere Entsprechung zwi schen der deutschen Gotik und der Malerei des zwan zigsten Jahrhunderts in Deutschland. Damit ist hier nicht ein vages Ausdrucksverlangen gemeint, sondern eine Verwandtschaft der Farbwahl und der erstrebten Formgesetzlichkeit wie auch der Tendenz zur sym bolischen Erhöhung der Bilder, wie sie in der Moderne für den Blauen Reiter charakteristisch ist. In der Tat ist der Blaue Reiter in der Samm lung durch Werke vertreten, die bezeichnend für die Gemeinschaft der Färb- und Formen sprache, aber auch für die Verschiedenheit der Weltsicht der Hauptvertreter sind. Für Macke stehen — neben anderen Arbeiten — das Aqua rell „Spaziergänger im Park" und das Ölbild „Cafe am See". Die „Spaziergänger" (Abbildung im Biele felder Macke-Katalog) bewegen sich in einer para diesischen Welt, in der es kein Leid und keine Trauer, sondern nur helle, starke, jubelnde Freude gibt, die sich in der Farbe ausspricht. Im „Cafe am See" (far bige Wiedergabe in der Macke-Monographie von Vriesen) ringt Macke um einen strengen Aufbau des Bildes; wären ihm mehr Jahre vergönnt gewesen, so hätten wir in dieser Hinsicht sicher noch Großes von ihm ei-warten dürfen. — Franz Marc ist von Anfang an komplizierter, um nicht zu sagen gequälter. Sein hochfiiegender Geist ersehnt eine andere, bessere Welt. Zunächst glaubt er sie noch beim Menschen zu finden, freilich gleichsam „in statu naturae puroe" („Akte im Kissen", Aquarell), dann beim Tier, das ihm nun „reiner" erscheint als der Mensch („Roter Hund", öl; „Ruhende Pferde", Aquarell; „Spielende Füchse", Aquarell; „Drei Rehe", Tuschzeichnung; vergl. Abb. 5 und 6), bis er endlich alles Gewordene ab lehnt und zum Werdenden flüchtet (für diese letzte Phase, die sich nur im „Skizzenbuch im Kriege" und im letzten Gemälde „Landschaft in Tirol" in München andeutet, hat die Sammlung begreiflicherweise keine
Beispiele). — Von solch einer romantisch-idealistischen Überforderung der Schöpfung ist Paul Klee weit ent fernt. Er weiß, wie nahe Ernst und Spiel beisammen sind („ZweihOgelstadt", Abb. in der Klee-Monographie von Grohmann) und kann so gegen Ende seines Lebens selbst dem Tod mit letzter Gelassenheit be gegnen, ohne seine Rätselhaftigkeit abschwächen zu wollen („Der Park und der Unbefugte"). — Wieder anders Jawlenski. Er sucht schon immer das Ewige und Unvergängliche, sei es im Antlitz des Menschen („Schöne Spanierin"), in der Landschaft („Berge bei Murnau", „Landschaft mit Regenbogen") oder im Stilleben („Früchte und Rote Blumen"). Von den Meistern der „Brücke" hat Dr. Fischer E. L. Kirchner bevorzugt gesammelt. Sechs Gemälde vergegenwärtigen die wichtigsten Stationen der Ent wicklung des Künstlers: „Friesisches Bauernhaus" (1906), „Straßenbild" (1909), „Wannsee-Bahnhof" (1915), „Reitschule" (1916; Abb. im neuen Kirchner-Band von Grohmann), „Selbstbildnis stehend" und „Heumäher" (1919). Man könnte an diesen Gemälden den ganzen Weg der deutschen Malerei dieser Zeit ablesen: vom Spätimpressionismus über den frühen Expressionismus der Vorkriegszeit bis zur formalen Verfestigung der zwanziger Jahre. Von den Aquarellen Kirchners in der Sammlung ist vielleicht das schönste die „Land schaft mit den gelben Wolken", die wir in diesem Heft abbilden (Abb. 8). Hier schließt sich ein Künstler an, der sich eine Zeit lang zur Brücke bekannt hat, dessen Kunst aber zu singulär ist, als daß er ohne weiteres zur „Brücke" gezählt werden könnte: Emil N o I d e. Von ihm fin den sich zwei prachtvolle Gemälde mit glühenden Farben in der Sammlung, die „Frau im Blumengarten" und die „Meereslandschaft am Abend". Kokosch kas „Stubenmädchen" wurde als eine der ersten Erwerbungen bereits genannt; hinzu kommen zwei schöne Aquarelle des Österreichers: „Savoyardenknabe" und „Krankes Mädchen". Vom dritten der großen Einzelnen, von Max Beckmann, über zeugen die „Fischküche" von 1936 und das „Kap St. Martin" von 1939 durch die Leuchtkraft und Hinter gründigkeit der Farbe. Noch wichtiger ist das 1944 entstandene Bild „Akademie II", in dem der Vorgang des Malens zum Sinnbild menschlicher Existenz über haupt wird, ein Thema, dos Beckmann immer wieder beschäftigt hat, vor allem auf den großen Triptychen seiner letzten Schaffensjahre, denen dieses Bild ver wandt ist. Die beiden Meister des Bauhauses, die im Hause Fischer besonders geliebt werden, Oskar Schlemmer und Lyonel Feininger, sind dem „Blauen Reiter" geistig verwandt. Hinter Schlemmer steht frei lich noch ein anderer Großer: Cezanne. Wie diesen beschäftigt ihn das Problem des Raumes im Bilde (unter Verzicht auf die Mittel der Perspektive), wie ihni beseelt ihn der Wunsch, seine Bilder zu „gebau ten" Bildern zu machen. Das beste Beispiel dafür in der Sammlung sind die „Fünf Männer im Raum", ein Hauptwerk des Meisters und der Sammlung (eine farbige Abbildung findet sich in dem Bande „German Art of the twentieth Century"). In der Farbe ist Schlemmer jedoch mehr dem „Blauen Reiter" ver wandt, was der „Knabe in Blau" veranschaulichen kann (Abb. 10); mit dem „Blauen Reiter" und mit Feininger verbindet ihn auch die Tendenz zum Sym bolischen. — Feiningers Aquarelle („Heiligenhafen", „Schiffe auf der Reede", „Ostseebucht", „Quimper") verraten äußerste Sensibilität. Mit letzter Konzentra tion wird hier der Ort der Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt gesucht. Dabei drängt sich das Subjekt nicht vor, sondern ist demütig bereit für „das Offene". Noch stärker wird dos an den Gemälden deutlich, so etwa an der „Segelpyramide", einem wei teren Hauptwerk der Sammlung. Himmel, Segel und Meer sind verwandelt; geblieben sind das Oben und das Unten und das Licht, das von oben hereinbricht und sich doch zugleich zu einem Dreieck zusammen schließt, das auf der dunklen Basis festgefügt steht. „Ein Rätsel ist Reinentsprungenes." Hier ist zugleich die äußerste Annäherung an die Abstraktion erreicht, die innerhalb dieser Sammlung denkbar ist. Die absolut-abstrakte Kunst hat in ihr keinen Platz. Von Kandinsky ist nur ein frühes, noch andeutungsweise gegenständliches Aquarell aufge nommen, die „Verkündigung". Die Mondrian-Nachfolge fehlt. An der Grenze stehen Ida Kerkovius mit ihren schönen Wandteppichen und einer harmonischen „Komposition" und Max Ackermann, zu denen auch persönliche Beziehungen bestehen. Bisher haben wir uns nur an den Wänden umge sehen. An einem glücklichen Abend aber dürfen wir vielleicht auch in die Graphik-Sammlung Einblick nehmen. Hier dominieren eindeutig Kirchner, Nolde und Münch. Unter den Zeichnungen, Holzschnitten, Radierungen und Lithographien Kirchners sind solche von außerordentlicher Lebendigkeit (die Druckgraphik hat Kirchner ausnahmslos selbst abgezogen!). Glü hend sind die Farben und selbst das Schwarz der Holzschnitte hat eine außerordentliche Kraft. Einen Holzschnitt wie den „Junkerboden" würde ich per sönlich vielen Gemälden Kirchners vorziehen (wir bringen ihn auf Seite 13 dieses Heftes). — Neben dem nervösen Kirchner steht der erdgebundene Nolde, dessen wichtigste Lithographien und Holzschnitte sich in der Sammlung finden. Kirchner und Nolde sind nicht denkbar ohne Münch. Es ist ein besonderer Ruhmestitel der Sammlung, daß sie mehr an bedeutenden Munch-Graphiken birgt als irgendeine andere deutsche Privatsammlung: „Mäd chenkopf am Strande", „Gang zum Walde", „Eifer sucht", „Der Kuß", „Vampyr", „Die Sünde", „Strindberg im Cafe", „Loslösung", „Trost", „Sterbezimmer", „Krankenzimmer" (vgl. unsere Abb. auf Seite 1) um nur
einige zu nennen. Es sind Variationen zu den beiden großen Themen, die Münch beschäftigt hoben: Leiden schaft und Tod, beide als Geschick begriffen, dem der Mensch ausgeliefert ist. Noch müssen wir der modernen Plastik Erwäh nung tun. Der Stuttgarter Altmeister Alfred Lörcher schmückt den Garten mit einer „Sitzenden" (schwarzer Marmor) und einem „schlafenden Mädchen" (Kera mik), während ausgesuchte Kleinplastiken, die aus den letzten Jahren stammen, auf Tischen und Kommoden im Inneren des Hauses Platz gefunden haben. Unter, ihnen fällt das „Pferderudel" (Bronze) besonders auf. Nicht weit davon sehen wir einen schönen „Reiter" von Marino Morini. — In unmittelbarem Zusammen hang mit der Gemälde- und Graphik-Sammlung ste hen zwei Holzplastiken von Kirchner, das „Fehmarn mädchen" und der „Bauer mit Kuh". Drei Werke repräsentieren Lehmbruck („Büste der großen Knie enden", „Rückblickende", „Kleine Sinnende"), einige Bronzen Barlach („Lesender Mönch", „Begegnung"). Gerade an den Werken dieser beiden Meister mani festiert sich wieder die heimliche Gotik in der moder nen deutschen Kunst. Damit kommen wir nochmals auf das Grundprinzip zurück, nach dem hier gesammelt wurde. Aus der Vergangenheit wurden Werke gesucht, die einer Ver gegenwärtigung fähig waren. Umgekehrt wurden aus der Moderne solche Bilder und Plastiken gesammelt, in denen die große Vergangenheit der abendlän dischen Kunst fortlebt. Nicht modische Gesichtspunkte, sondern persönliche Konsequenz hat entschieden. Es wurde nicht „Modernes um des Modernen willen" gesammelt, sondern bedächtig und zielbewußt, wie es dem Wesen Dr. Fischers entspricht, eine Auswahl ge troffen. Denn dieser Sammler ist kein Extremist, son dern ein Mann der Mitte. Vielleicht kann man nir gends so gut wie in seinem Hause, dem Heim einer glücklichen Familie, erkennen, welch starke humanen Kräfte die Malerei des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Dr. Annemarie Heynig, München Nafur und Landschaff im Werk Ernst Ludwig Kirchners Und wer hat die rediten Hymnen gesungen für die Erde« denn ich bin rasend von verzehrender Lust, freudige Hymnen für die ganze Erde zu singen. /""T ^iese leidenschaftlichen und starken Worte des y großen amerikanischen Dichters Walt Whitman können sinnbildhaft über Leben und Werk Ernst Lud wig Kirchners stehen. Es ist innere Verwandtschaft gleichgestimmten Wesens, wenn sich Kirchner zeit seines Lebens zur Dichtung des Älteren hingezogen fühlt, dieser ihm Trost und Ansporn zugleich gibt und der Lebensentwurf beider in rückhaltloser Hingabe ähnlich kühn, stolz, unbeugsam, in ungeheuren Span nungen und doch voll innerer Empfindsamkeit erklingt und sich erfüllt. Das Lebenswerk des deutschen Malers und Gra phikers, der 1938 verfemt von den Machthabern seines Vaterlandes und einsam in Frauenkirch bei Davos seinem Leben selbst ein Ende setzte, begann erst in den letzten Jahren wieder seinen Weg in die Öffent lichkeit zu nehmen, nachdem es in den Zeiten vor und nach dem ersten Weltkrieg im Mittelpunkt des deut schen Kunstinteresses gestanden hatte. Nun klären sich vor der Vielzahl der Zeichnungen, Graphiken, Gemälde, der Weberei und Plastik die Vorstellungen zu Einsichten in Themen und Probleme, Entwicklung und kunstgeschichtliche Stellung des Künstlers. Den Freunden blieb Ernst Ludwig Kirchner vornehm lich in der Erinnerung als der Chronist des gesteiger ten großstädtischen Lebens in Berlin kurz vor Aus bruch des ersten Weltkrieges und sodann der aus tiefem Erleben berufene Künder schweizerischen Hoch gebirges. Natur und Landschaft im Werk Ernst Ludwig Kirchners zu betrachten, sei hier in kurzer Übersicht zur Aufgabe gestellt. Die Landschaft als Motiv erscheint bereits in jener ersten faßbaren Gruppe von Gemälden und Gra phiken der Jahre 1904—1906. Sie entstanden in der Künstlergemeinschaft „Brücke", welche der 1880 ge borene Ernst Ludwig Kirchner zusammen mit seinen Freunden Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff 1905 in Dresden gründete. Unbefriedigt von der in Realis mus, Idealismus, Naturalismus und Impressionismus befangenen Kunst der Zeit, suchen diese jungen Men schen nach einer neuen eigenen Kunst, welche Aus druck ihres veränderten Erlebens der Welt und ihrer Dynamik geben sollte. Ausstellungen der Galerie Arnold mit Werken van Goghs (1905) und der Neoimpressionisten Seurat, Signac, Cross sowie Gauguin und Valloton (1906) weisen ihnen den Weg. Die starke Erlebniskraft in den Gemälden van Goghs berührt sie heftig, das innere Leben aller Dinge und das Sich formen eines jeden Gegenstandes im Bilde. Wie im
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2