Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 4

„Raum" jedoch ist eher „dem vergleichbar, den der Mensch in seinen Träumen erfährt, ein Raum ohne Weite und meßbare Tiefe, der nichts anderes dar stellt als eine Synthese von den geträumten Dingen und uns selbst". Oder: er gleicht gewissen „immer organischer zusammenwachsenden Innenwelten in den Bildern der letzten Jahre", die iJei Chagall eine seltene „Identität von Bildraum und Herzraum" aufweisen. So wird sein Raum gleichsam zum Spie gel der Struktur des inneren Erlebnisses und ist nicht surreal aufzufassen, ebensowenig wie die Be wegung kein futuristisches, sondern ein poetisches Element ist. Gerade in der Konfrontation mit den verschiedenen Ismen und ihren Verfechtern — in diesem Zusammenhang sind die genannten litera rischen Parallelen aufschlußreich —, gerade im Kon takt imd teilweise im Widerspruch zu Picasso, Delaunay, Apollinaire u. a. kristallisiert sich die künst lerische Eigenart Chagalls heraus. Es soll nicht der Versuch unternommen werden, den Weg nachzuzeichnen, den der Verfasser in so lebensnaher und belehrender Weise sichtbar zu machen versteht. Das Besondere dieser Veröffent lichung .besteht darin, daß sie den relativ engen Rahmen einer Biographie überschreitet und durch einfühlende Deutung, die ein bewundernswertes Detailwissen verrät, Ursprünge und Tiefen der in nerhalb der gesamten Moderne einzigartigen Kunst Chagalls entdecken hilft. Curt Grützmacher. Martin Gosebruch: Emil Nolde. Aquarelle und Zeichnungen. F. Bruckmann-Verlag, München, 1957, DM 19.80. Eine Auswahl von 21 Aquarellen, größtenteils aus den dreißiger Jahren stammend, und einigen Zeich nungen aus der Zeit der großen religiösen Bilder (1909) lassen den Betrachter einen faszinierenden Blick in denjenigen Schaffensbereich Noldes tun, der von Kennern oft höher als seine Ölbilder ge schätzt wird. In der Tat entfaltet sich hier das ganze Können des vollendeten Aquarellisten Nolde, dem seit Beginn des Jahrhunderts wohl kaum etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen ist. Wenn ir gendwo, dann ist das Wort von der „Magie der Mittel" hier anwendbar. Martin Gosebruch hat den Blättern eine konzen trierte Einleitung vorangestellt, die zxmächst einen biographischen Abriß imd dann einige abgerundete Interpretationen bringt, wobei man jedock gern etwas mehr technische Einzelheiten erfahren hätte. — Ganz zu Recht wird dem frühen Ölbild „Berg riesen" aus der Schweizer Zeit (hier datiert 1895; der Hamburger Ausstellungskatalog nennt 1896/97) eine bedeutende Stellung eingeräumt: „Das Bild ist, verstehen wir es wesentlich, eine vollgültige Nolde-Aussage." Dem ist nur zuzustimmen, denn gerade im Rahmen der Münchner Ausstellung er schienen die „Bergriesen" als Entwicklungsbasis, die bereits die entscheidenden künstlerisch-genetischen Anlagen in sich vereint, besonders deutlich. Etwas unmotiviert erscheint dagegen die Kritik des Ver fassers an W. Haftmann, wofür ein Aquarell der St. Galler Zeit (mit einem Sonnenaufgang) zur Grundlage gemacht wird. Dazu kommt, daß leider keine Abbildung gebracht wird, so daß sich die nicht unwesentliche Behauptung für denjenigen, der das frühe Blatt von Nolde nicht zufällig kennt, jeder Nachprüfbarkeit entzieht. Außerdem betont ja Haftmann mehr die Begegnung mit Münch, van Gogh und Ensor, die für Nolde zum „Fond" wurde, aus dem „der Durchbruch in die leidenschaftliche Welt der persönlichen Vision gelingt". (W. Haft mann, Malerei im 20. Jahrhundert, S. 123.) Davor lag zudem noch der Kontakt mit den Malern der „Brücke" (1906). — Überzeugend und treffend in der Formulierung sind die interpretierenden Ausfüh rungen zu den Aquarellen, die sich auf wenige, echte Nolde-Themen .bes^ränken: die Blumen, diese wolkenhaft-flüchtigen Gebilde von unglaub licher Zartheit, die Landschaften mit ihrem fast religiösen Signum und diese seltsamen Menschen, jene Kinder der „Grazien und des Traumes". Was aber sollen zum Schluß die unorganisch angefüg ten Invektiven gegen die Moderne? Hat es über haupt einen Sinn, lamentierend den Verlust einer „schöpferischen Kraft" zu beklagen, um dadurch die Qualität und Unvergleichlichkeit Noldes um so stär ker hervortreten zu lassen? Der Vergleich dürfte methodisch nicht zulässig sein, denn zunächst wäre doch einmal zu imtersuchen, ob sich die angeblich verlorene schöpferische Intensität nicht nur auf an dere Ebenen verlagert hat. Und schließlich: eine „matte" Gegenwart gegen eine vitale Vergangen heit auszuspielen — das Rezept ist verdächtig! Die Kulturpessimismen, die wirklich zum Verständnis der Gegenwartssituation beitragen, sind nämlich sehr, sehr selten. Curt Grützmacher. Juliane Roh: Ich hab wunderbare Hilf erlangt . . . Votivbilder, Bruckmann-Verlag, München, 1957, DM 8.50. Aus der Fülle der neuen Kunstbücher hebt sich — thematisch und in der äußeren Gestaltung — ein kleines Bändchen in wohltuender Besonderheit heraus. Es ist eine kleine, bei der Fülle des Mate rials mit sicherem Geschmack ausgewählte Samm lung von Votivbildern, jenen rührend-naiven Dar stellungen, die dem Bewohner Süddeutschlands und Österreichs eine vertraute Erscheinung sind. Man muß Juliane Roh aufrichtig Dank sagen, daß sie dieses Thema aufgegriffen hat und in der ein leitenden Betrachtung die kultische Stellimg des Votivbildes und seine schematisierte Thematik aufzeigt. Eine kleine Bibliographie am Schluß des Bandes nennt dem wissenschaftlich Interessierten noch die wichtigsten Werke der Volkstumsforschimg. Die Ex-Votos sind greifbare Zeugnisse eines naiven Menschentums, das sieh noch in seiner un mittelbaren Frömmigkeit in den Ablauf des Heils geschehens eingebunden fühlt. — Wie völlig unzu treffend der intellektuelle Spott der Gebildeten über solche Beweise eines einfachen Glaubens sind, darauf hat vor vielen Jahren schon R. Guar dini in „Kultbild imd Andachtsbild" hingewiesen. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß der dem Naiven innewohnende Humor geleugnet werden soll. Gerade er ist ja ein wesentliches Reizmoment dabei. Der Bittanlaß ist sehr verschieden; er umfaßt die ganze Skala menschlicher Nöte: vom Krieg über Feuersbrunst und Wassernot bis zur Rettung aus Gefahr, Krankheit und kleineren Privatübeln. Ein durchgehendes Gestaltungsprinzip ist hierbei das „so selbstverständliche Beieinander dreier Welten: unten die irdische Misere, droben die himmlische Herrlichkeit und dazwischen . . . die Figuren der Bittsteller". Durch das sorgfältig gewählte Papier und die häufige Faksimile-Wiedergabe der alten OriginalBeschriftungen gewinnt das Buch einen bibliophi len Reiz, der ihm viele Freunde schaffen wird. Curt Grützmacher 33

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