Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 3

nach Aussprachen mit dem Meister, als auch alle schriftlichen Dokumente, deren er habhaft werden konnte, ein (diese sind zum Teil im Rowohlt-Band mitveröffentlicht). So ist im wesentlichen die Echt heit der Aussagen gesichert, wenn auch an einigen Stellen deutlich eine Tendenz zur Heroisierung her vortritt (besonders die Zwischenbemerkungen Gasquets sind so zu lesen). Das erste Gespräch — vor dem „Motiv" — dreht sich um das Problem der „Realisation", das zweite — im Louvre — um das Verhältnis Cezannes zur Tradition, das dritte end lich — im Atelier — führt den Gedanken des zwei ten fort, indem es Cezannes Tendenz zur „Klassik" herausstellt („refaire Poussin ä la nature"). Den Gesprächen und den Briefen Cezannes folgt ein bemerkenswerter Essay „Über die Kunst Ce zannes" von Walter Hess, dem bekannten Her ausgeber der „Dokumente zum Verständnis der mo dernen Malerei". Die außerordentlich klare und präzise Darstellung baut auf den Ergebnissen von Novotny und Kurt Badt auf. Zimächst wird die Entwicklung Cezannes verfolgt: die ungezügelten Anfänge, die Disziplinierung durch die Begegnung mit Delacroix und Courbet, von denen er aber nicht die Weltvorstellung, sondern die Farbenkimst über nahm. Der „Bahndurchstich" von 1870 ist Zeu^is der erlangten Reife. Nun erst, nachdem er diese Stufe erreicht hat, setzt er sich mit dem Impres sionismus auseinander, übernimmt aber wieder nicht das eigentlich Impressionistische daran, son dern den Aufbau des Bildes aus „Farbmolekülen". Im folgenden wird das Spezifische der Kunst Ce zannes herausgearbeitet. Drei Begriffe dienen der Verdeutlichung: jedes Bild hat Molekular struktur, ist ein lückenloser Zusamenhang in der Fläche. Dabei wird die Bildeinheit durch Farbmodulationen gewonnen: die Farben müssen genau und in ihrer Entsprechung gesetzt wer den. Die Bildwerdung ist die schwierige Aufgabe der Realisation, des Herausarbeitens des Ein zeldinglichen aus den Grundstrukturen. — In all dem aber geht der stete Kontakt mit der Natur nicht verloren: sie ist Ausgangspunkt, Ziel und Mittel des Bildes. Freilich heißt Malen — nach den Worten Cezannes — „nicht einfach die Natur nach ahmen, sondern eine Harmonie unter zahlreichen Bezügen herstellen, sie in ein eigenes Tonsystem übertragen, indem man sie nach dem System einer neuen originalen Logik entwickelt". Denn „die Natur ist nicht an der Oberfläche, sie ist in der Tiefe. Die Farben sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche. Sie .steigen von den Wurzeln der Welt auf". Endlich gilt es noch Emst Rowohlt, den Verleger, zu kommemorieren. Er ist jetzt siebzig, aber immer noch unternehmungslustig. Nach der erfolgreichen Reihe der „Taschenbücher" imd der „Deutschen Enzyklopädie" unternimmt er nun — was gewagter ist! — die Veröffentlichung von „Klassikem der Literatur und Wissenschaft" im Taschenbuchformat. Während die Enzyklopädie Sekundärliteratur dar bietet, sollen hier die Quellen zu Worte kommen. Emsthafte Leute machen allerhand Einwendungen gegen diese Art, Geist billig zu verkaufen. Allein mein Geldbeutel und ich sind dafür. G. R. Oskar Kokoschka, Sdhriften. 1907—1955. Heraus gegeben von H. M. Wingler, Langen-Müller-Verlag, München, 1956, DM 24.80. H. M. Wingler, Oskar Kokoschka. Ein Lebensbild in zeitgenössischen llokumenten. Langen-MüllerVerlag, München, 1956, DM 3.80. Als der bedeutendste Beitrag, den Deutschland zur europäischen Kunstentwicklung der letzten fünfzig Jahre geleistet hat, kann wohl getrost der Expressionismus genannt werden, jene Kunstrich tung, die mit fast barockem Pathos und lauter Ge bärde am Vorabend des Ersten Weltkrieges ge boren wurde, und bis in den Beginn der zwanziger Jahre hinein ihre Aggressivität behielt. Doch heute — nach kaum 40 Jahren — ist von dem Lärm nichts mehr zu spüren; das Ganze ist historisch gewor den und selbst die seinerzeit bedeutendsten Aktiven sprechen davon nur noch im Resümee-Stil; wie Historiker, vom „expressionistischen Jahrzehnt". Die summarischen Abhandlungen größeren und kleineren Formats häufen sich, und sind schon nicht mehr darum bemüht, den Elan dieses Jahrzehnts wieder lebendig werden zu lassen, sondem ver suchen vielmehr, durch soziologische imd phänomenologische, durch individual- und kollektivpsy chologische Auslotung das „So-und-nicht-anderssein" der expressionistischen Haltung von der Warte der zeitlichen Distanz aus in die beruhigenden Bahnen literarhistorischer Logik zu zwingen. Ob diese Auffassimg zu Recht cder zu Unrecht besteht, läßt sich am besten an einer unmittelbaren Begegnung mit den Texten kontrollieren, die das Gesicht dieser Epoche mit entscheidend geformt haben. Soldie Möglichkeiten der Begegnung bietet der Band „Schriften" von Oskar Kokoschka, der eine große und gelungene Auswahl seiner Dichtun gen, Erinnerungen und kunsttheoretischen Äuße rungen aus der Zeit von 1907—1955 in sich vereinigt. „Die träumenden Knaben" (1907) können wohl als eins der bedeutendsten literarischen Produkte des Wiener Jugendstils bezeichnet werden. — Eine symbolisch-stimmungshafte Sprachgebärde versucht, die dünne Scheidewand zwischen Außenwelt und inner menschlicher Existenz zu durchstoßen und so ge wisse Schichten des menschlichen Erlebnisbereiches zum Spiegelbild des naturhaften Geschehens zu machen. Thematisch gesehen stehen „Der weiße Tiertöter" (1908) und „Der brennende Dornbusch" (1911) in unmittelbarer Nähe. Das Hauptwerk von Kokoschkas dramatischem Schaffen bildet das schon 1907 entstandene — von Hindemith 1920 vertonte — Drama „Mörder Hoff nung der Frauen", dem wenig später „Sphinx und Strohmann" folgte. Die schöpferische Persönlich keit Kokoschkas zeigt sich hierbei besonders darin, daß eine zeittypische Thematik —, die Polarität der Geschlechter, symbolisiert durch Sonne und Mond, gleichsam in ewiger Distanz unter kos mischem Zwang —, ins Mythische überhöht wird und dem Bereich der individuellen Erfahrung zu entgleiten beginnt. Das Individualerlebnis Strindbergs etwa erscheint zahm entgegen den ausweg losen Erkenntnissen der Phänomene des Kollek tiven, worin zugleich ewige Provokation zur künst lerischen Aussage, aber auch unübersteigbares Hin dernis gegeben war. Das Hinabtauchen ins Reich der Assoziationes, des Visionären, was sich programmatisch zur Idee zu festigen hat, wird bei Kokoschka am deutlich sten in den bereits erwähnten Dramen und in „Hiob" (beendet 1917), worin symbolische Personi fikationen — Anima, Eros, Adam, Tod, Kautschuk mann — agieren. Selbst die autobiographisch be tonten Erzählungen weisen diesen Zug auf: der erste Teil der Jugendbiographie, „Allos Makar" und die „Verwundung". Zwingend ist die Beschreibung der eigenen Assoziationsfähigkeit in „Vom Erleben". Wie sehr Kokoschka als Künstler davon abhängig war, zeigen seine theoretischen Äußerungen „Von 28

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