Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 3

Vollzuges durch die Übermacht der Reflexion, die in diesem Blatt sichtbar wird, hat man seit langem als Hauptkennzeichen des heutigen Menschentums erkannt. Sie ist wahrscheinlich auch symptomatischer für die Gegenwart als die ebenfalls um sich greifende Flucht vor der Auto nomie des Intellekts in destruktive Sinnenhaftigkeit. * ♦ * Bis zum Ausklang der großen, für das Abend land insgesamt verbindlichen Stilepochen im letzten Jahrhimdert war es die unbezweifelte Voraussetzung der bildenden Kunst, daß zwi schen Flächensicht und Tiefensicht als den Polen optischer Weltwahrnehmung ein harmoni sches Verhältnis möglich sei und im Grimde bestehe. Diesen Einklang vermochte der Wechsel von linearer und malerischer Gestaltung keines wegs aufzubrechen, vielmehr vollzog gerade ihr Pendelschlag insgeheim den Ausgleich. Auch der einzelne Künstler hat das ästhetische Gleichge wicht beider Potenzen, um das er in seinem Werk beständig rang, nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Eben deshalb erscheint uns im Rückblick die Kunstentwicklung bis zum Ein bruch des Industrialismus als ausgewogener und in sich geschlossener Kulturbereich. Um die letzte Jahrhundertwende bemächtigt sich eine aufwühlende Unruhe des künstleri schen Gewissens, die tiefer greift als frühere Stilumwälzungen. Abgesehen von allen anderen Einflüssen und Anlässen war für die Malerei schon ein unerhörter Schlag, daß nun die Ent deckung photographischer Wiedergabe der Außenwelt zu voller Auswirkung kam. Denn das technische Lichtbild — zumal in seiner Um bildung zum Film — nimmt für sich in An spruch, was vordem die eigentliche Domäne bil dender Kunst zu sein schien. Die Heraufkunft der bis heute heiß umstrittenen „ungegenständ lichen" Malerei hat, was noch viel zu wenig be achtet wird, darin ihren nicht nur äußerlichen Bedingungsgnmd. Es würde den Rahmen des hier behandelten Themas sprengen, wenn darauf mit der erfor derlichen Ausführlichkeit eingegangen werden sollte. Lediglich ein Gesichtspunkt sei hervor gehoben, der in unmittelbarer Beziehung zu der oben geäxißerten Überzeugimg des vorindu striellenKünstlertumssteht. Mag für das ästhe tische Urteil die „abstrakte" Zielsetzung der jüngsten Malerei, die im Expressionismus ein setzt, das ausschlaggebende Kriterium sein: in psychologischer Hinsicht ist ein anderer Um stand nicht weniger revolutionär — nämlich die mit der Ausschaltung der Gegenständlichkeit zugleich erfolgte Entthronung jenes „harmoni schen" Verhältnisses der geschilderten Stil elemente und seine Verkehrung in einen dystonen Spannungsbezug, wobei gerade ihr Widerstreit, ihr Zwiespalt zum erregenden Reiz wird. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür bietet das Stilleben von Picasso (Abb. 14, 15). Der klar herausgearbeitete Umriß der dargestellten Dinge hat sich dort völlig von der tonigen Flächenbe handlung gelöst; beide ordnen sich sachlich un abhängig voneinander dem Bildgefüge ein. Ge rade die gleichsam verselbständigte Stimmfüh rung gegeneinander macht nun die eigent liche Faszination aus, der gegenüber das ur sprüngliche Ringen um ihre Versöhnung und Eintracht an Anziehimgskraft einbüßt, ja naiv anmutet. Bis in diese Entzweiung der bildneri schen Gestaltungsgrimdlagen wirkt sich die Ab kehr von der gegenständlichen Natur zwangsläuflg aus. Der Verzicht auf die Einheit der äußeren An schauung läßt es weiterhin auch zu, daß jetzt zeitlich auseinanderliegende Vorgänge, wie etwa verschiedene Augenblicke des Mienenspiels oder nacheinander erlebte Eindrücke von einer be wegten Gestalt, die Hessings kritische Kunst einsicht vom Bereich bildnerischer Wiedergabe ausschließen wollte, gleichzeitig und verzerrend ineinandergeschobendargestellt werden. Aus solcher Aufhebung oder Entmächtigung des Urgegensatzes von räumlicher Gestalt und zeitlicher Bewegung, worin Kant die tragende Voraussetzung nicht nur aller sinn lichen Erfahrung, sondern insbesondere der „Ästhetik" erblickt hat, entspringt im Grunde ciie offensichtliche Irritation des heutigen Kunst schaffens. Von der Rationalisierung des Be wußtseins und der Selbstentfremdung des Men schen durch die Technik wird der bildende Künstler vielleicht am empflndlichsten getrof fen, weil sie ihm den Antlitzcharakter der Er scheinungswelt verdecken und zerstören, aus dem er letztlich seine visionären Eingebungen allein empfangen kann. Wenn von Physiognomik des künstleri schen Ausdrucks die Rede ist, so liegt solchem Sprachgebrauch noch das aus der Frühzeit menschlicher Welterfahrung stammende Ein druckserlebnis zugrunde, daß nicht nur Mensch und Tier ein Gesicht besitzen, dessen Mie nenspiel wir unmittelbar zu verstehen glauben, sondern daß die gesamte, dem Auge wahrnehm bare Natur uns bedeutungsvoll anblickt und wir ihren rätselhaften Anmutungsgehalt durch intuitive Deutung erhellen können. Im Künstler wie im Kinde sind diese Gewiß heit und Befähigimg am lebendigsten geblieben, weil ihr Bewußtsein noch überwiegend imagina tiv, nicht rational geprägt ist. Die gefühlsgela22

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