Für die Psychodiagnostik gewinnt dieser — unvermerkt auf Lessings Entgegensetzung von gegenständlicher Malerei und ablaufsgebimdener Dichtung zurückgreifende — Ansatz be sondere Bedeutung dadurch, daß er nicht nur eine methodische Interpretation zeichneri scher Gebilde erlaubt, sondern auch deren Beziehung zur Handschrift aufhellt, wo durch eine vergleichende Deutung beider gra phischen Ausdrucksspuren möglich wird. Zwei Skizzenblätter und Schriftproben von Hauptrepräsentanten der großen, neuzeitlichen Kunstepochen können den Leitgedanken eines solchen menschenkundlichen Auswertungsver fahrens einführend und beispielhaft veran schaulichen. In der Zeichnung Raffaels (Abb. 11) hebt sich der Halbakt durch betonte Konturierung klar von der Fläche des Hintergrundes ab, und der plastische Eindruck wird hier durch die ebenso klar abgesetzte Strichart in der Schraffur des Schattens erreicht. Entsprechend ausgepräg ten Formcharakter trägt auch die sozusagen „ge zeichnete" Handschrift, namentlich in ihrem Mittelband, wogegen die großen, aber zarteren Ober- und Unterlängen leicht bewegt ausladen. In der optischen Kontrolle der manuellen Ge staltung spiegelt sich die Helle eines empfin dungsgetragenen Bewußtseins und seine Vor macht gegenüber der triebhaft-unwillkürlichen Lebensäußerung. Im Kontrast dazu scheint das von Rembrand't festgehaltene Brustbild (Abb. 10) aus der Tiefe des Raumes dem Beschauer entgegen zutreten. Die Aufmerksamkeit auf das HellDunkel der Lichteinwirkung löst die tastbare Körperlichkeit der Gestalt auf. Der Umriß ist dementsprechend unbetont, locker und unter brochen; die pendelnd bewegte Strichführung lebt sich elementar in der Schattierung aus. Von Ungebremstheit der Impulse zeugt auch das eigenwillige Hin und Her in der Handschrift, vor allem in den druckbetonten Ober- und Unterschleifen, das den formgebenden Grund strich entmächtigt. Die Dominanz leidenschaft lichen Erlebens über die gedankliche Klärung und willentliche Zügelung kennzeichnet in bei den graphischen Bekundungen den epochalen Grundzug der Persönlichkeit. Unter den bildenden Künstlern unseres Jahr hunderts kann Pechstein als ein typischer Vertreter des „malerischen" Darstellungsstils bezeichnet werden. Sein Skizzenblatt (Abb. 12) zeigt in dieser Hinsicht wiederum eine bemer kenswerte Einheitlichkeit von Zeichnung und Handschrift. Beide Gebilde greifen hier über dies so unbekümmert ineinander, daß ihr We sensunterschied fast verschwindet, und zwar zugunsten der anschauungsnahen Zeichnung. Die Handschrift erscheint ebenfalls wie „ge malt" und mit dem Pinsel ausgeführt: das male rische Sehen „färbt" gleichsam auf sie ab, so daß sie den Eigencharakter des Schreibens als einer geistigen Aussage weitgehend einbüßt. In der breiten Tonigkeit des druckschweren Stri ches ertrinkt die Formung der Schriftzüge, ja sogar deren Rhythmus; und die fast gewaltsame Abstimmung cier Zeichnung auf Licht und Schatten läßt den Umriß des gegenständlichen Motivs nicht zu seinem Eigenrecht kommen. Beide Merkmale weisen auf hohe sensuelle Beeindruckbarkeit in Verbindung mit starken An triebskräften hin: auf eine geballte Lebens grundschicht also, die ein entschiedenes Überge wicht über die Befähigung zu besonnener Abstandnahme hat. Unverkennbar „lineare" Eigenart besitzt da gegen nicht nur die Zeichnung, sondern auch die Handschrift auf dem Blatt von K a nd i n s k y (Abb. 13). Verglichen mit der Skizze von Pechstein, bei der die schriftlichen Bemer kungen mit zum Bildganzen zu gehören schei nen, ist hier psychologisch schon bemerkenswert, daß sich die Schreibzeilen entschieden von dem zeichnerischen Gebilde absondern, und zwar keineswegs nur zufällig. Bedeutsamer ist jedoch die Verschiedenheit der lockeren und gebro chenen Strichführung in der Zeichnung vom zü gigeren Schreibduktus, insbesondere der ausfahrend-druckstarken Anfangs- und Endbeto nung in der vergrößerten Unterschrift. Zeichnung und Handschrift weisen bei Kandinsky also eine spürbare Diskrepanz auf. In der ersteren drängt sich die ausgesprochen empfindsame Grimdanlage ihres Urhebers vor, während die zweite ein offenbar kompensatorisches Bedürfnis nach bewußter Distanzierung erkennen läßt. Gegenüber der Brüchigkeit der Zeichnung, die einen Mangel an vitaler Ur sprünglichkeit verrät, zeigt insbesondere der Namenszug spannungsvolle Selbstbehauptung, ja geistigen Machtanspruch. Im Gegensatz zur Federführung bei Pechstein „schreibt" Kandinsky eigentlich auch dort noch, wo er bildnerisch gestaltet. Der abgesetzte Strich in der Zeichnung und nicht zuletzt das unscheinbare Merkmal der klar überkreuzten Schraffur im Bildzentrum sind unzweifelhafte Anzeichen vorwaltender Bewußtheit; sie wird durch überhöhte Sensibilität heraxisgefordert und führt trotz — oder gerade wegen — des strengen Formwillens die Gefahr eines Gestalt zerfalls mit sich. Damit dürfte auch der „ab strakte" Charakter des Bildmotivs zusammen hängen, der einer solchen Wesensart ange messen erscheint. Die Beeinträchtigung des unwillkürlichen Schaffens wie des selbstverständlichen Lebens21
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