Durch ein Beispiel aus der Praxis sei das umrissene Deutungsverfahren kurz veranschau licht: Einem vierjährigen Jungen, der an der Hand des Vaters einen Bauernhof betritt, stürzt aufgeregt kollernd ein Truthahn entgegen. Deis Kind flüchtet hinter den Vater, der das wütende Tier verscheucht. Dann beruhigt er den Kleinen, was ihm auch völlig zu gelingen scheint. Als sie nach dem Besuch wieder zu Hause angelangt sind, nimmt der Junge ein Blatt Papier und fer tigt spontan seine erste Zeichnung. Mit zartem und gebrochenem Strich stellt sie einen kaum erkennbaren Truthahn dar. Das Eindruckserleb nis war unverkennbar so nachhaltig, daß es durch den väterlichen Zuspruch nur oberfläch lich zurückgedrängt und erst durch die Ent ladung in der eigenen bildhaften Darstellung wirklich gebannt wurde. In der Zeichnung selbst spiegelt der gestalthafte Umriß des Tieres sym bolisch den Gegenstand und äußeren Anlaß der Beunruhigung, während in der unsicheren Be wegungsführung der innere Zustand des Kindes nachschwingt, ja darüber hinaus seine beson ders sensitive Wesensart zum Ausdruck kommt. Unter dem doppelten Gesichtspunkt der Bild symbolik und des Bewegungsausdrucks lassen sich schon grundlegende Stilunterschiede in den Höhlenmalereien der menschlichen Frühzeit dem psychologischen Verständnis näherbringen. Wie in der erwähnten Kinderzeichnung be schränkt sich auch die Darstellung des Elefan ten (Abb. 7) auf die Wiedergabe der stehenden Gestalt, deren Profil hier jedoch mit kühner Festigkeit umrissen ist. Nur der bannende An blick des Tieres ist gestaltet; der Mensch selbst und seine Beziehung zum gesehenen Objekt werden noch nicht in die Schau einbezogen. Gegenüber solcher pathischen Hingegebenheit verrät die Jagdszene (Abb. 8) eine weit abstän digere Bewußtseinsverfassung: Beutetier und Jäger sind in ihrem Spannungsbezug erfaßt. Die beherrschend gewordene Handlung läßt aber bezeichnenderweise die natürliche Gestalt des flüchtenden Hirsches noch unangetastet, wäh rend der verfolgende Bogenschütze beinahe schon als expressives Signum der Aktionsgeladenheit ins Bild tritt. Abb. 8. Hirschjagd, Vallontaschlucht, Ostspanien, aus Sdieltema Adama, Kunst der Vorzeit Die beginnende Überwindung des vorzeit lichen Naturalismus endlich spricht sich in der geradezu „abstrakten" Darstellung des Jagdvor ganges (Abb. 9) aus, die eine erste Bildschrift zu sein scheint und wie ein inbegriffliches Monogramm anmutet. Abb. 7. Umrißzeichnung eines Elefanten aus der Höhle von Castillo (Provinz Santander), aus Scheltema Adama, Die Kunst der Vorzeit, Verlag Kohlhammer, Stuttgart Abb. 9. Hirsdijagd von Cogul Am Anfang unseres Jahrhunderts ist in der Kunstwissenschaft die ausdrücklich psycho logisch fundierte Unterscheidung zwischen Flächen sieht und Tiefen sieht (Hilde brandt) eingeführt worden. Diese stilkritische Anregung, die sich eng mit dem hier erörterten Verhältnis von Gestalt und Bewegung berührt, wurde in der Folge zum polaren Bezug „line arer" und „malerischer" Darstellung (Wölfflin) ausgebaut, namentlich im Hinblick auf den nachmittelalterlichen Umbruch des klassischen in das barocke Schaffensbedürfnis. 20
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