Prof. Dr. August Vetter (München) Physiognomik des künstlerischen Ausdrucks Den Ausführungen über das mir gestellte Thema möchte ich zunächst die Frage vor anstellen: Was ist gemeint, wenn von Physio gnomik des künstlerischen Ausdrucks ge sprochen wird? Offenbar denkt man dabei an den Ausdrucksgehalt, den etwa ein Gemälde, eine Plastik oder eine Zeichnung besitzt. Das von Menschenhand gsdiaffene Bild wird gleich sam als Symbol betrachtet, das in ähnlicher Weise wie das menschliche Antlitz unmittelbar auf das Gefühl des Beschauers einwirkt. Seine Bedeutung läßt sich deshalb nur intuitiv erspüren und erschließen. Insofern das Kunstwerk eine Aussage des Künstlers über seine Sicht der Wirklichkeit darstellt, ist es zugleich ein Bekenntnis, worin er sich selbst bezeugt. Dieser Gesichtspunkt umfaßt allerdings, wie eingeräumt werden muß, nur den subjektiven Aspekt des Kunst verständnisses. In der Deutung vom Menschen her liegt jedoch allein die Berechtigung zur psychologischen Interpretation der bildnerischen Gestaltung. Von ihr soll hier die Rede sein. Physiognomik gehört ja von jeher zur Menschenkunde. Eine wesentlich andere Betrachtungsweise ist die ästhetische Würdigung, die sich auf den überpersönlichen oder objektiven Wert des künstlerischen Erzeugnisses richtet. Für sie ist die Kunstwissenschaft zuständig, zu deren An liegen auch die Einordnung der zeitbedingten Stilformen in die Kulturentwicklung gehört. Von solcher Fragestellung wollen wir hier ab sehen, weil sie das diagnostische Blickfeld über schreitet. Zur Vorbeugung möglicher Mißver ständnisse sei dies ausdrücklich vorausgeschickt. Um den Leitgedanken für die folgenden Darlegungen klarzustellen, sind indessen einige weitere Vorerörterungen erforderlich. In der heutigen Psychologie hat die Physio gnomik noch kein allgemein anerkanntes Heimatrecht wiedererlangt. Im Altertum zuerst begründet und am Ausgang des Mittelalters wieder auflebend, ist sie seit Lichtenbergs scharfem Angriff auf Lavater sogar von der methodischen Ausdrucksforschung ausgeschlos sen worden. Eine ästhetische Verteidigung der Physiognomik, wie sie beispielsweise in den Schriften von Kassner vorliegt, hat daran nicht viel zu ändern vermocht. Die wissenschaftliche Ausdrucksdeutung be schränkt sich in unserer Zeit grundsätzlich auf den Bewegungs -Ausdruck von Lebewesen; sie ist somit nach Lichtenbergs Vorschlag als „Pathognomik" zu bezeichnen, während Physio gnomik im strengen Sinn die Symbolik der — körperlichen oder bildhaften — Gestalt meint. Diese Abgrenzung hat ihren Grund darin, daß nur die Bewegungsweise vom Betrachter nach vollzogen und dadurch in ihrem seelischen Bedeutungsgehalt wirklich erfaßt werden kann. Auf solche Weise verstehen wir etwa eine Handgeste, nicht aber eine Handform. Zu den Hauptgebieten der Ausdrucksforschung gehört die Pantomimik mit ihrer Untergliederung in Mimik, Gestik und Gang sowie die Analyse der Sprechweise; ferner die Untersuchung von Ausdrucksspuren, vor allem der Handschrift. Auf graphologischem Gebiet wurde bemerkens werterweise erstmals die Grundlegung der Ausdruckswissenschaft im ganzen erarbeitet. Die Abgrenzung des Bewegungsausdrucks gegenüber der Gestaltsymbolik ist heute in der Psychologie allgemein anerkannt. Neuerdings wird aber nun insbesondere durch die Einbeziehung bildnerischer Gestal tungen in die Psychodiagnostik wieder eine Besinnung auf die Eigenart der Physiognomik gefordert und die Frage nach der Berechtigung ihrer Symbolauslegung brennend. Die Bildein fälle von Zeichenversuchen, wie sie im Dienst der Erziehungsberatung durchgeführt werden, zwingen zu einem anderen Deutungsverfahren, als es die Auswertung des Bewegungsablaufs in der Handschrift ist. Die gleiche Notwendig keit ergibt sich bei allen sogenannten „Gestal tungstests", von denen hier nur der WarteggZeichentest und der Baumtest genannt seien. Die ästhetische Würdigung des zeichnerischen oder malerischen Gebildes tritt dabei entschie den hinter die diagnostische Wertigkeit als Selbstbekundung der Persönlichkeit zurück. Das oberste Richtmaß für die psychologische Auswertung von bildnerischen Erzeugnissen bietet demgemäß die Unterscheidung zwischen dem Bewegungsausdruck einerseits und der Gestaltsymbolik andererseits, wobei also Pathognomik und Physiognomik in ihrer polaren Bezogenheit aufeinander berücksichtigt sind. Von solcher Voraussetzung eröffnet sich auch ein methodischer Zugang zum Verstehen des Kunstwerks als persönliche Dokumentation, die zugleich repräsentativ für die Spannweite künstlerischer Gestaltung überhaupt ist. 19
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