Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 1

in Paris als „der Verkünder des Hei-zens", doch eine leichte Melancholie verrät das Spüren kommender Katastrophen. Immer wieder werden „die Erschüt terungen des Gefühls durch poetische Metaphern" festgehalten. Aus Amerika — dem letzten Zufluchts ort, dessen Sprache er nie gelernt hat — kehrt der Künstler 1947 nach Frankreich zurück, wo zunächst der „Zirkus" zur bevorzugten Motivwelt wird. Eine Griedienland-Reise, durch die er sich auf die Illu stration zu „Daphnis und Chloe" vorbereiten wollte, läßt ihn überdies zum Bildhauer werden, der in flacher Reliefmanier religiöse Themen aus dem Marmor herausarbeitet. In dein großformatigen Öl bildern der letzten Jahre — wie „Die Erschaffung des Menschen", „Der Zug durchs Rote Meer", „Moses" und „König David" — läßt Chagall die Welt des Alten Testaments wiedererstehen. Hier scheint sich der Kreis zu schließen. In sel tener Einheit steht das Werk eines Künstlers vor ims, dessen Schöpferkraft von den Wurzeln eines alten Glaubens aufsteigt, um mit ihr „das Unmög liche wahrscheinlich, das Unwirkliche sichtbar, das Phantastische vertraut zu machen und selbst dem Magischen das Unheimliche zu nehmen". Eine beigefügte Zeittafel weist auf Parallelerschemungen der europäischen Malerei der letzten fünfzig Jahre hin. Außerdem erteilen eine sorgfäl tige Bibliographie und ein Register am Schluß des Bandes reiche Auskunft. Curt Grützmacher. „Deutsche Holzschnitte des XX. Jahrhunderts. 42 Bildtafeln, ausgewählt und herausgegeben von Erhard Göpel. Im Insel-Verlag, 1955. DM 3.— Krumm sind die Kanäle in Ostende. Pferde stem men sich gegen den Sturm. Gefangene rütteln an Kerkergittem. Auf den Straßen stolzieren Kokotten. Einer hält sein Antlitz dem Schicksal entgegen. Der Prophet wird überwältigt von Gesichten: das ist deutscher Expressionismus. Aber auch das: Ein Mädchen — holdes Geschöpf! — zwischen Blumen. Frauen gesegneten Leibes, die einander begegnen. Der Vater, der den Bettler — seinen verlorenen Sohn — umfängt. Die Jünger auf dem Wege nach Emmaus, vom Unglauben ge beugt, doch schon umstrahlt von der Herrlichkeit des kündenden Herrn. Holz ist wieder Holz. „Es ist eine Technik, die zum Bekenntnis auffordert." „Schierke und Elend" des 19. Jahrhunderts liegen zu Füßen. Dieser Faust wird Mephisto nicht erliegen. Erhard Göpel sagt mit Recht: „Dieser Kunst kommt heute über den Kreis der Liebhaber eine weittragende Bedeutung im inneren Haushalt der Nation — im Sinne Hofmannsthals verstanden — zu." Er weiß aber auch: „Faßt man das Volk als Le bewesen imd die Äußerungen seiner Künstler als die stellvertretende Aussage für eine bestimmte Lebensstufe, so hat die Nation in ihrer Breite die Auseinandersetzung mit dieser Bilderwelt noch nicht vollzogen." Man kann diesen Worten nur beipflichten. In der Graphik, und besonders im Holzschnitt, ist der Ex pressionismus stark, nicht nur in der Aussage, son dern auch in der Form. Es ist eine Kunst hohen G.R. Max Beckmann, „Briefe im Kriege". Mit 22 Zeich nungen. Verlag Albert Langen-Georg Müller, München 1955. DM 3.80 Max Beckmann, „Tagebücher 1940—1950". Im gleichen Verlag. DM 24.80 Erhard Göpel, „Max Beckmann in seinen späten Jahren". Langen-Müller Verlag, München 1955. DM 3.80 „Je öfter man stirbt, um so intensiver lebt man. Ich habe gezeichnet, das sichert gegien Tod und' Ge fahr." Der dies geschrieben hat, Max Beckmann, war einer der größten deutschen Künstler der er sten Jahrhunderthälfte (er starb 1950 in New York). Aber nicht nur das: an ihm wird in exemplarischer Weisel deutlich, was das heute heißt: Maler sein, ja, was das heute heißt: Mensch sein. Zwei unschätzbare Dokumente liegen uns nun im Druck vor: seine Briefe aus dem ersten Weltkrieg und die Tagebücher der letzten zehn Jahre. Diese hat Beckmann eigentlich nur für sich angelegt; dar um ist vieles unverständlich ohne den „Kommen tar", den Erhard Göpel dazu geschrieben hat („Max Beckmann in seinen letzten Jahren"). — In den Briefen wie in den Tagebüchern lebt der ganze Beckmann — in seinen scharfen Beobachtungen und in seinem kurzen, zupackenden Stil. Wir lernen ihn hier in den beiden Perioden kennen, die für ihn und sein Werk entsdieidend waren. mich ist der Krieg ein Wunder, wenn auch ein ziemlich unbe quemes. Meine Kunst kriegt hier zu fressen ..." heißt es in den Briefen, und in den Tagebüchern steht: „... düstre Löcher in den Dünen mit alten Forts, winkte der Oorlog (= Krieg) mir zu, nur noch aus weiter Feme — und zur rechten Seite das grau und weiße, fast raumlose Unendliche." Worum geht es in der Kunst Beckmanns? Zu nächst um den Menschen, um das Ich und um das Du. Immer wieder hat er sich selbst dargestellt, nicht aus Eitelkeit, sondern aus Wachheit. Beckmann läßt sich nichts vormachen und — was viel schwerer ist — er macht sich auch selbst nichts vor. Daher die außerordentliche Wirkung dieser Bilder. Die Farbe spielt erst von den späten zwanziger Jahren ab eine große Rolle in seinen Bildern. Da werden die Gemälde auf einmal vielschichtig, kost bar, transparent. Aber auch in diesen späten Bildern bleibt die Farbe der Formbehandlung untergeord net. Die „Form" nennt Beckmann in einem Atem mit dem „Raum". Dieser ist das eigentliche Pro blem Beckmanns. Dem Raum begegnet er, wenn er am Meeresstrand steht (die einzigartige Schilde rung im Brief vom 16. März 1915!). Aber nicht nur da. Er ist das Gegenüber jedes Bildes. Man muß ihn fürchten. „Huh, dieser unendliche Raum, dessen Vordergrund man immer mit etwas Gerümpel an füllen muß, damit man seine schaurige Tiefe nicht sieht" (24. Mai 1915). Raum — das ist für Beckmann die Geheimnisdimension der Wirklichkeit. Noch klarer ausgiedrückt: die Unendlichkeit des Raumes steht bei Beckmann für die Unendlichkeit Gottes. Wer ist dieser Gott? Es ist der ferne, unbegreif liche Gott. Seine Personalität tritt zurück (ohne daß sie geleugnet würde, wenigstens soviel ich sehe). Der Mensch begegnet ihm immer wieder — aber nur als dem „ganz Anderen" (dem „mysterium tremendum"), nicht als dem za Liebenden (dem „myste rium fascinosum"). Hier lie^ die Grenze, ja die Tragik Beckmanns. Sie entspringt der Situation des heutigen Menschen. Das aber hat er erkannt: daß Kunst mehr ist als sie selbst, daß Kunst Zeichen ist, das über sich hinaus weist. „Die Kunst ist schöpferisch um der Darstellung willen, nicht zur Unt^haltung — um der Wandlung willen, nicht zum Spiel." G. R. 31

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