Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 1

und Beckmann heraus, tun die zwei Ausdrucksmöglidikeiten anzukündigen, die wir heute als das „große Reale und die große Abstraktion" kennen. — In den Worten Bazaines, eines Vertreters der jüngeren Generation, spricht eine Stimme der „art engagöe", jener Gruppe in Frankreich, die im sa kralen Auftrag mit abstrakten Mitteln schaffend eine große Tradition des Abendlandes fortsetzt. Curt Grützmacher. scheidet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Gött lichkeit (im Sinne Schillers) fehlt. Wir sind frei und sie sind notwendig; wir wechseln uns, sie blei ben eins." (Über naive und sentimentalische Dich tung.) Der Katalog selbst hätte, dem außerordentlichen Anlaß entsprechend, wesentlicher werden müssen. Auch die Büdauswahl ist nicht befriedigend. G.R. Wassily Kandinsky, „Über das Geistige in der Kunst". 5. Auflage, mit einer Einführung von Max Bill."' Benteli Verlag, Bem-Bümplitz 1956. DM 10.40 Wassily Kandinsky, „Punkt und Linie zu Fläche". 3. Auflage. Im gleichen Verlag. DM 13.85 Hans Konrad Köthel, „Kandinsky und Gabriele Münter. Ausstellungskatalog. Verlag Bruckmann, München 1957. DM 3.— 1910 ist das Geburtsjahr der abstrakten Malerei. In diesem Jahr malt Kandinsky in München seine ersten abstrakten Kompositionen. Kurz darauf kom men Larionoff und Malewitsch in Moskau sowie Delaunay und Kupka in Paris — unabhängig von Kandinsky — ebenfalls zur abstrakten Gestaltung. In cüesem entscheidenden Jahr 1910 hat Kan dinsky „Über das Geistige in der Kunst" geschrie ben. Das Buch braucht nicht erst vorgestellt zu werden. Es gehört zu den grundlegenden Quellen werken zum Verständnis der Entstehung der mo dernen Kunst. Wir sind dem Benteli Verlag für die Neuauflage sehr dankbar, ebenso für cüe Neu auflage des zweiten Buches von Kandinsky, das 1926 in der Reihe der Bauhaus-Bücher zum ersten mal erschien. Seit kurzer Zeit haben wir die einzigartige Mög lichkeit, den künstlerischen Weg Kandinskys auch vor den Originalen zu verfolgen. Gabriele Münter, die Schülerin und Weggefährtin Kandinskys, hat der Städtischen Galerie München 122 Gemälde sowie zahlreiche Hinterglasbilder. Federzeictaungen, Aquarelle und Farbholzschnitte des Meisters aus der Zeit von 1901 bis 1914 vermacht, die bis Ende März im Lenbachpalais ausgestellt sind (man möchte nur wünschen, daß die Frage der endgül tigen Unterbringung bald geklärt wird). Deutlich lassen sich im Frühwerk Kandinskys drei Perioden imterscheiden: Er setzt beim Jugendstil und Spätimpressionismus ein und bleibt bis 1907 bei symbolistisch-märchenhafter Gestaltung (man denke an den Brautzug von 1902/3 oder an das Reitende Paar von 1905/7). In den Jahren von 1908 bis 1911 geschieht der Durchbruch zum Abstrakten, ohne daß das Gegenständliche ganz verdrängt wird. An manchen Bildern dieser Zeit läßt sich deutlich dieser Zwiespalt ablesen („Sonntag", „Die Kuh"), doch gelingen auch schon überzeugende Lösungen („Berg", „Afrikanisches"). Nach 1911 (Zeit des Blauen Reiter) geht Kandinsky entschieden zur ab strakten Gest^tung über (in diese Zeit fallen die verschiedenen Fassungen seiner Improvisationen imd seiner Kompositionen). Neben dem mit hoher Bewußtheit schaffenclen Kandinsky steht Gabriele Münter als die naive Künstlerin. Erst ganz spät (1951!) hat sie einige abstrakte Kompositionen geschaffen, aber auch diese sind ganz farbige Vitalität. Ihre Bilder sind von großer Ursprünglichkeit. Kandinsky hat in üir wohl gefunden, was Schiller in Goethe fand: „Was ihren Charakter (den Charakter der naiven Künstler) aus macht, ist gerade das, was dem imsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen xmterLioneUo Venturi, „Chagall" (deutsch v. K. G. Hem merich), Skira-Verlag, Genf 1956. DM 25.60 Von einem der besten Kenner der modernen Ma lerei stammt das neueste Buch über Marc Chagall, womit die Skira-Reihe „Der Geschmack unserer Zeit" fortgesetzt wird. Wie alle Bände besticht auch dieser durch seine überlegene Auswahl schöner Bil der, welche den konzentrierten Text zu einer Ein heit runden und den Reichtum der Malerei Chagalls erkennen lassen. Ein einleitender Essay ebnet die Wege zu dem poesiereichsten Maler der Gegen wart, indem vor allem der geistige Boden sichtbar gemacht wird, aus dem er und seine Kxmst kommen. Es ist Rußland und das nachexilische Judentum von Witebsk; es ist die Heimat des Chassidismus. Hier wurzelt die seit frühester Jugend bei ChagaU vor herrschende Neigung zum Transzendenten, die Be tonung des irrationalen Elementes und seine künst lerische Kraft, echte Mythen aufleben zu lassen. Der kurze biographische Überblick zeigt deutlich, wie eng Chagalls Kunst mit seinem Leben verbun den ist. Fast immer treffen äußere Veränderungen mit Umschichtunjgen der inneren künstlerischen Persönlichkeitsstruktur zusammen, wobei jedoch die — man könnte sagen: angeborene — Grundkonzep tion unverändert bleibt. Mit Recht kommt den ersten Pariser Jahren (1910 bis 1914) erhöhte Bedeutung zu, denn in dieser Zeit offenbart sich Chagall der ganze Zauber der Farbe. Wohl waren die Bilder der früheren Zeit in ihrer Mischung von „Erinnerung und Realität" durchaus etwas Eigenes, besonders das seiner Braut Bella von 1909 war vom Range einer „poetisch ge steigerten Wirklichkeit". Jetzt aber tritt die Farbe als weiteres Mittel hinzu und beginnt, ihre geheim nisvollen Wirkungskräfte zu entfalten. Das „Porträt des Vaters" (1911) ist wie eine erste Reson^. — Das nächstwichtige Erlebnis in Paris war die Be gegnung mit den Kubisten, die sich auf Grund eines intellektuellen Prozesses zur simultanen Bildgestal tung ciurchgerungen hatten. Ihre Alogik entstammt jedoch einem geistigen Bereich, während die Cha galls aus den Tiefen des Mythischen kommt. Aus diesem Grund ist sein Ressentiment gegen den Kubismus als Ziel erklärlich. Für ihn ist er Mittel, weshalb er ohne Zögern bald das kubistische For menreservoire benutzt, um sich von der Kausalität zu befreien, ohne jedoch jemals „den poetischen Klang" aufzugeben. Die Rückkehr nach Rußland bringt zunächst er folgreiche Zusammenarbeit mit dem neuen Regime; die Welt des Theaters wartet mit lohnenden Auf gaben. Bald jedoch stellen sich politische Hinder nisse den künstlerischen Plänen Chagalls in den Weg und 1922 verläßt er mit seiner Familie die alte Heimat für immer. Es geht zurück nach Paris, wo bald ein „zarterer Rhythmus", eine „weic^, sinnliche Farbe" über die zuvor entstanden«!, „ins Dramatische gesteigerten" Rabbiner-Bilder trium phieren. Die farbige Harmonie der Bildgestaltung „sichert die Herrschaft über die Form". Chagall gilt 30

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