Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 1

Johannes erinnern, wo es heißt: „Und er ent rückte mich im Geiste — und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, erfüllt von der Herr lichkeit Gottes" (Apk. 21, 10). Unsere Kirche ragt kaum über die Menschen häuser hinaus, sie besitzt keinen Turm, der von weitem her siditbar wäre. Sie, die Gotteswoh nung, steht demütig unter den Mensdienwohnungen, wie einst das Bimdeszelt Israels unter den Zelten der Juden in der Wüste, so demütig, wie Jesus als Unbekannter unter den Volks massen stand, um sich von Johannes wie alle anderenmit der Wassertaufein den Fluten des Jordan taufen zu lassen. Der Apostel Paulus sagt vom menschgewordenen Gottessohn: „Er hat sich ausgegossen, er nahm Sklavengestalt an, wurde den Menschen gleich und erschien im Äußeren wie ein Mensch" (Phil. 2, 7), denn „das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen" (Joh. 1, 14); und dieses Bundeszelt des „neuen und ewigen Bundes" ist sein menschlicher Leib, durch den er imser Bruder geworden ist. „Schlacht- und Brand opfer willst Du nicht, aber einen Leib hast Du mir geschaffen" (Ps. 39, 7), läßt der Psalm pro phetisch den Messias sprechen. Und Paulus sagt von diesem Mehschenleib Christi, der am Kreuze zum Opferleib werden sollte: „Darum mußte er in allem seinen Brüdern gleichwerden, damit er ein barmherziger und treuer Hohepriester bei Gott werde" (Hb. 2, 17). Unsere Kirche ist aus einem mittelalterlichen Bauernhaus zum Gotteshaus umgebaut worden; sie hat dieses Haus gleichsam in sich aufgenom men und sich anverwandelt. So ist auch der Gottessohn seinem Leibe nach aus einer Frau, der Jungfrau Maria, in Bethlehem geboren wor den und hat dieses unser Fleisch niemals mehr abgelegt, vielmehr in seiner Auferstehung sich anverwandelt und mit sich in den Himmel ge nommen. Unsere Kirche hat zwei Eingänge, die beide geradewegs auf den Altar zuführen, der sofort und überragend sichtbar wird und im vollen Lichte liegt. Das Allerheiligste des Bundeszeltes und des Salomonischen Tempels war ein völlig dunkler, fensterloser Raum, den niemand als der Hohepriester — imd dieser nur zweimal im Jahr — betreten durfte. Dort stand die Bundes lade, auf der zwischen zwei Cherubim die Herr lichkeit Gottes thronte. Es gibt auch christliche Kirchen, in denen geheimnisvolles Dunkel herrscht und man sich auf langen Wegen dem Allerheiligsten des Altares nähern muß. Unsere Kirche bringt uns die Zugänglichkeit Gottes zum Bewußtsein, die wir durch Jesus erlangt haben. Jesus sagt von sich: „Ich bin der Weg" (Joh. 14, 6), der Weg zxim Vater nämlich. Er sagt auch „ich bin die Tür" (Joh. 10, 9). „Niemand hat Gott je gesehen", bezeugt die Schrift (Joh. 1, 18), „der Einziggeborene, der Gott ist und im Schöße des Vaters ruht, hat uns Kunde von ihm ge bracht." Deshalb sagt Jesus auch beim Abend mahl zu den Aposteln: „Philippus, wer mich sieht, sieht den Vater" (Joh. 14, 9). Gott, „der im unzugänglichen Lichte wohnt", ist uns zugäng lich und sichtbar geworden im Leibe und im Antlitze Jesu. Die beiden weit offenen Türen unserer Kirche deuten auf diese beglückende Tatsache unseres Heiles hin. Über der einen Tür befindet sich die Gestalt des Gekreuzigten. Mit weit ausgebreiteten Hän den lädt er dazu ein, sich ihm anzuvertrauen: „Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!" (Matth. 11, 28) und wir erinnern xms der prophetischen Worte Jesus: „Wenn ich von der Erde erhöht sein werde, werde ich alles an mich ziehen" (Joh. 12, 32). Wie aus Lehm geformt, ohne Dornen krone, aber auch ohne Königskrone, erscheint xms dieser Christus. Ist Christus doch nach den Worten des Apostels Paulus „der letzte Adam", der im Gegensatz zu dem rebellischen „ersten Menschen Adam" (1 Kor. 15, 45) durch seinen Gehorsam „bis zum Tode, ja bis zum Kreuzes tode" (Phil. 2, 8) unsere Versöhnung mit Gott in seinem Blute vollbracht hat. Auf dem Zementguß der anderen Tür finden sich zwei bedeutungsvolle Bilder eingeritzt: der Sündenfall und die Taufe des Herrn. Von die sem Sündenfall muß sidi der Mensch abwenden, wenn er ins Heiligtum Gottes eintreten will; abwenden von der Empörung gegen den Vater im Himmel, gegen seine Gnade und Liebe und hinwenden zu jener Taufe, durch die wir Kin der Gottes werden. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr in das Reich Gottes nicht eingehen", sagt Jesus (Matth. 18, 3). Im Sünden fall wollte der Mensch „wie Gott" werden, in der Taufe empfängt er tatsächlich aus Gnade Anteil „an der göttlichen Natur". Vom Falle Adams ging alles Unheil in der Menschheit aus, von Jesus, der in seiner Taufe zum Christus, zum Messias, vom Heiligen Geist gesalbt wurde, kommt alles Heil. „Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet werden", sagt Jesus (Mark. 16, 16). Treten wir von der Seite in die Kirche ein, befinden wir uns in einem niedrigen, säulen getragenen Gewölberaum (es war ein Wirt schaftsraum des ehemaligen Bauernhauses), aber vor uns liegt in triumphierender Helle der Altarraum. Somit nähern wir uns aus dem dunklen Welt- imd Menschenbezirk, der voller Nöte und Fragen ist (wir dürfen sie alle mit uns in das Haus unseres Gottes nehmen, um sie 26

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