Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 1

kam, seinen Kreuzweg in dieser fast rudimen tären Wörtlichkeit an die Kapellenwand von Vence zu zeichnen. Der deutsche Expressionismus, der bekannt lich mit Ernst L. Kirchner, Schmidt-Rottluff und schließlich Nolde von Matisse und den Fauves, damit also auch von Gauguin ausgegan gen ist, entwickelt seinerseits mit einer fast manischen Besessenheit von neuem die Aus drucksfunktion nun nicht nur der Farbe, sondern aller Gestaltkräfte des Bildes. Ekstase ist Zu stand, Ansdiauimg wird verdrängt durch die Halluzination des Überwirklichen, und dement sprechend geraten alle Bildelemente aus der Ruhe des Baus in eine reißende Bewegung:der Pinselstrich wird fiebrig, züngelt um den Bild gegenstand, um die Unwirklichkeit jeder Ding grenze vor der panischen Gewalt des Erlebens darzutun. Das Seelenklima, in das bei allen mehr oder minder stark van Gogh oder Edvard Münch hineingewirkt haben, ist sehr verschie den und reicht von der Innigkeit und Demut der Paula Modersohn-Becker bis zum gran diosen Pathos des frühen Kokoschka. Gemein sam ist allen, auch dem Großstädter Kirchner, die Hingabe an das Elementare, die Nähe zu vorreligiösen Zuständen und jenes Ausweichen vor dem geschichtlichen Gethsemane, in dem Konrad Weiß das Verhängnis van Goghs er blickte. Man konnte auf Ausstellungen christ licher Kunst Bildtafeln Noldes mit religiöser Thematik: etwa der Darstellung im Tempel, dem Pfingstbild, der „Maria Aegyptiaca" u. a. be gegnen und mußte ihre Überlegenheit an ge stalterischer Intensität gegenüber dem liturgisch sachgerechten Kunstgewerbe der üblichen christ lichen Künstler anerkennen, ohne sich verhehlen zu können, daß die religiöse Intensität Noldes nicht aus der Wurzel christlicher Grunderfah rungen kommt. Auch Nolde hat eine starke Farbsymbolik, die aber ganz seinem persön lichen Ausdrucksbedürfnis unterworfen ist, und wenn irgendwo, so läßt sich an dem Unterschied seiner Farbsymbolik zu dem Kanon der christ lichen Sakralfarben augensinnlich dartun, wie wenig diese beiden Welten sich berühren. Ähn liche Abgrenzungen wird man gegenüber fast allen religiösen Darstellimgen des Expressio nismus vornehmen müssen, mit der einzigen Ausnahme des Außenseiters Christian Rohlfs, der, von der gleichen Erfahrung ausgehend, die Farbe, so sehr er sie in der Intensität stei gert, entsinnlicht und in ein geistliches Scheinen bringt. Selbst vor den für mein Gefühl ergrei fendsten religiösen Kundgebungen des Expres sionismus der Lithographienfolge zur Bachkan tate von Kokoschka drängt sich die Frage auf, ob diese Formensprachenicht an die ganz per sönliche Spannung des Menschen Kokoschka ge bunden bleibt. Der Expressionismus hat wie der Impressionismus einige Wiedergeburten erlebt (Picassos GuemicaBild von 1937 ist ein Expressionismus, der die Ausdrucksteigerung mit den Mitteln der surreali stischen Transposition verfolgt). Aber hier wie all gemein gilt, daß der Primat des Ausdrucks, in der Einsinnigkeit und Vehemenz, die er im Expressio nismus behauptet, eine tiefere Einbindung in eine lebendig erfahrene religiöse Tradition voraussetzte, als es im 20. Jh. gegeben ist, wenn über die per sönliche Gebärde vor der Transzendenz hinaus, die allenfalls ein religiöses Kunstwerk ergibt, eine Kimstschöpfimg sakralen Charakters entstehen sollte. Die Expressiv-Stile von der Romantik bis zum Spätbarock sind nur durch diese Bindung als sakrale Stile möglich gewesen. Der Drang, Innerlichkeit herauszusetzen, von dem der Expressionismus bestimmt war, hat jene Untergründe des Seelischen in Fluß ge bracht, die in der abendländischen Kunst nur bei wenigen Außenseitern wie Carpaccio, Hiero nymus Bosch, Füßli, William Blake ins Bild gekommen sind, vom sakralen Raum aber (das gilt, wie man nachgewiesen hat, auch für einige Altartafeln des Hieronymus Bosch) ausgeschlos sen blieben. Der Traum als die Zone, in der sich der Mensch der Führung des Geistes begeben hat, hat keine Zuordnung zum Sakralen, das ein rationale obsequium, einen vernunft geleiteten Dienst fordert. Wo der Traum in die Kunst einbricht, reißt jede Verbindung zur Sakralüberlieferung christlicher Herkunft ab. Die moderne Kunst ist seit den Achtzigerjähren des vorigen Jahrhunderts bevölkert von solchen Träumern. Es gibt hier Wachträumer wie James Ensor, der sich des Traums bediente, um den makabren Grund des modernen Menschen getriebes zu entlarven: hinter jeder Maske grinst ein Totenschädel, und sein Christus auf jenem berühmten Blatt: „Christi Einzug in Brüssel" bewegt sich wie auf dem Meeresgrund, umstellt von den Fratzen eines vieltausendköp figen Ungeheuers. Es gibt Liebesträumer wie Chagall, die selbst vor dem ungeheuren ge schichtlichen Ernst der Golgothaszene sich die Traumfreiheit erhalten wollen und so dessen Wahrheit unwiderruflich verfehlen. — Es gibt die metaphysischen Träumer der pittura metafisica, eines Chirico etwa, denen Meta physik nichts anderes ist als der Hintersinn der metallisch gespannten Fläche über der uneingestandenen Leere. Es gibt aber auch den gro ßen Wahrträumer Paul Klee, der in dem Maße mehr Wirklichkeit faßt, als er sich streng in der Zone des Traumes hält und die Wahrheit des Traumgeschehens unerbittlich in seinen Bild zeichen festlegt. — Es gibt schließlich die metho dischen Träumer, die den Automatismus des Unterbewußten mit Vorbedacht auslösen, steu22

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