Christliche Kunstblätter, 95. Jg., 1957, Heft 1

Morphologie der Sakralkunst kann nicht hei ßen, daß es gelte, die unverrückbaren Konstan ten herauszuarbeiten, die jeder Sakralkunst an gleich welchem geschichtlichen Ort zukommen. Selbst in der Einengung auf den christlichen Bereich ist das Sakrale der ravennatisdien Kunst und das des Altenberger Doms und das der Stiftskirche von Melk, wenn man es nur auf diese Konstanten gebracht hätte, noch lange nicht in seinem Wesen erfaßt, das an der Ein maligkeit des Geschichtlichen Anteil hat. Jean Bazaine (dem wir neben dem großen Mosaik der Kirche in Audincourt einige Glasfenster von strahlender Offenbarungskraft verdanken) sagt: „On ne fait pas la peinture que Ton veut, il s'agit de vouloir jusqu'au bout la peinture que Ton peut, celle que peut Tepoque." Die Epoche, die jeweilige Zeit, kann immer nur das, was hinter allen nachweisbaren geschichtlichen Be dingungen als ureigenster Formtrieb zutage tritt, der alles, was sich ihm in dieser Zeit an künstlerischen Potentialitäten bietet, ergreift, in seinen Zug hineinreißt und zu zahllosen Aus bildungen führt, um, wenn seine Stunde ge kommen ist, die Führimg an den Formwillen einer neuen Zeit abzutreten. Nun scheint aber gerade die Geschichte der Formtendenzen der letzten 50 Jahre diese Er fahrung in Frage zu stellen, da sie uns statt eines durchwaltenden Formtriebs einen Wirbel von aufeinanderfolgenden Formtendenzen vor führt, die oft, noch bevor sie zu voller Entfal tung gekommen sind, verschwinden, um andern, oft entgegengesetzten, Platz zu machen, in er staunlicher Abwandlung wieder emportauchen, von neuem erliegen, und so fort. Die Geschichte des Impressionismus seit seinem Aufkommen in den Siebzigerjähren des vergangenen Jahrhun derts, die an sich schon eine lange, über Turner hinaus bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte hat, könnte das gut illustrieren: Er hat nicht nur aus der immanenten Entwichlungsgesetzlichkeit seiner Darstellungsmittel die verschiedenen Abwandlungen zum sogenannten Divisionismus, Pointiiiismus, Simultaneismus und dem konstruktiven Nöo-impressionismus eines Seurat durchlaufen (eine Entwicklimg, die im Werk eines Meisters wie Signac noch bis zu dessen Tod 1935 kontinuierlich durchgehalten wird), sondern taucht plötzlich an unerwarteter Stelle, in der gegenstandslosen Malerei als „impressionisme de Tinvisible", wie man ihn genannt hat, wieder auf (Lapoujade, Bernhard Schultze). Auch eine gewisse Spielart des Tariechismus liegt in dieser Linie. Ähnliches läßt sich vom Expressionismus, vom Surrealismus und der abstrakten Kunst sagen. Sie alle erleben mehrere Metamorphosen, in denen sich ihr Ur sprung oft nur in der Gemeinsamkeit des gehei meren Formzutriebs verrät. Zeugt nun dieses Nebeneinander nur von einer Verstörung des Formensinnes, so daß von einem ureigensten Formtrieb unserer Epoche nicht mehr die Rede sein kann? Die Unbeirrbarkeit, mit der die gro ßen Meister unserer Zeit ihren Formenweg ge gangen sind oder immer noch gehen, spricht dagegen. Kann es nicht sein, daß erst in der Alternanz der verschiedenen Formtendenzen die ganze Spannweite der Formmöglichkeiten, die in unserer Zeit bereitliegen, ausgemessen wird und daß sich dieses bunte Nebeneinander aus größerem historischen Abstand als ein Inein ander von erstaunlicher Kohärenz, zumindest aber als ein Zueinander von zwingender Schicksalhaftigkeit erweist? In diesem Schicksal steht der Künstler unserer Tage, imd er hat die ungeheure Aufgabe, seiner innersten Möglichkeit so tief nachzugraben, daß er auf die eigentliche Quelle seines Formstrebens stößt. Diese Quellen aber finden alle den Weg zu dem großen Strom unserer Zeitkunst. Einen anderen Weg in das Meer der überzeitlichen Geltung von Kunst gibt es nicht. Was dies bedeutet für einen Künstler, der aus innerer Nötigung heraus seine Formkraft im sakralen Raum zu entfalten getrieben wird, ist sofort einzusehen, wenn man sich diese unsere Zeit und Lebenswelt vergegenwärtigt. „L'amour divin y respire mal" sagt P^re Couturier von ihr: „Die Gottesliebe atmet in ihr nur mühsam" (Art sacre 1—3 [1953], S. 6) und er drücht damit nur sehr schonend aus, was einem Leon Bloy, einem Bernanos Gegenstand eines lebens langen Ärgernisses war. Hier eröffnet sich für den Künstler nur der Weg der Passion, und in dem Maße, als das Schicksal, d. h. aber diese unsere Zeit, und der Auftrag, d. h. das sakrale Kunstwerk, zusammengehalten werden, in dem Maße gewinnt die Passion an Todesschärfe. Für den Formenweg des Künstlers besagt Über nahme des Schicksals,der Zeit, durch unerbitt liche Selbstbefragung nach seiner Möglichkeit den Anschluß an den Formtrieb der Zeit zu fin den, ihn vielleicht in eine neue Bahn zu leiten. Er wird sich, um die Spannung von Schicksal und Aufgabe nicht ins Widersinnige zu steigern, konkret fragen müssen, ob es innerhalb der Formtendenzen unserer Zeit nicht solche gibt, die ihrer innersten Richtimg nach vom Heilig tum weg in die Zone einer verruchten Gegensakralität streben, ihm also die Erfüllung seiner Aufgabe schlechterdings unmöglich machen. Es könnte sich aber auch ergeben, daß die eine oder andere Formrichtung eine besondere Affinität zum Sakralen hat, überzeugende Äquivalente 18

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