Christliche Kunstblätter, 94. Jg., 1956, Heft 3

Ronchamp und die Folgen Dieser kühnste, extremste und persönlichste Bau von Le Corbusier ist sehr umstritten, vor allem, wenn man den Bau als katholische Wallfahrtskirche bezeichnet. In der katholischen Schweiz jedoch herrscht einstimmiger Jubel; man schrieb bis jetzt nur in hymnischen Tönen über dieses Experiment, wie denn überhaupt die Hymnik die einzige Form ist, in der man bei uns über alles, was als moderne Kirchenkunst bezeichnet wird, sich äußert und sich äußern darf. In einem zweiten Artikel soll hier davon die Rede sein. KRITISCHE STIMMEN ZU RONCHAMP Es ist vielleicht nicht ganz unnötig, hier darauf hinzuweisen, daß man nicht senil ist, wenn man Ronchamp als Kirche ablehnt. Deshalb folgen hier drei Stimmen, die kritisch tönen. Niemand wird bestreiten, daß der abstrakte Bild hauer Max Bill, bis vor kurzem Leiter der neuen „Hochschule für Gestaltung" in Ulm, restlos modern denkt. In einem Artikel „Zum heutigen Stand der Baukunst" in der Wochenendbeilage der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 5. November 1955 schreibt Bill: „Auf der andern Seite sind die Architekten. Das sind Leute, die unter Zuhilfenahme von allen mög lichen Kunstkniffen versuchen, die heutige Einför migkeit des Lebens in eine Vielfalt des Bauens umzumünzen. Dies aus einer richtigen Erkenntnis: Die Architekten sind die Verantwortlichen für die Umgebung der Menschen. Also werden die Ardiitekten zu Moralisten. Das wäre nun noch keine Schande. Aber die Moral der Architekten hat einen doppelten Boden, und unter diesem doppelten Bo den verbirgt sich der Künstler. Dieser leidet genau so am Drang nach ,Seifexpression' wie der Maler oder Bildhauer oder der Dichter. Es ist dem Archi tekten nicht auszutreiben: Er muß etwas Umwäl zendes machen, das von allen Seiten photographiert werden kann und ihm einen Stern am Himmel sichert. Das führt schließlich dazu, daß eine Wallfahrtskapelle zu einer Ausstel lungsarchitektur wird, und dadurch Religion der Reklame zum Verwech seln nahe komm t')." Der Architekt Prof. Dr. Peter Meyer, ehemals Redaktor des „Werk", vor kurzem als Extra ordinarius an die Zürcher Universität berufen, sprach im letzten Oktober in einer der Sondervor lesungen für Ehemalige der ETH bei Anlaß des Hundertjahr-Jubiläums auch sieht in diesem Bau Trog10dyten. In Vortrag resümiert die Fachzeitschrift „Bauen und Wohnen" wie folgt: „Die Wallfahrtskirche von Ronchamp ist wie aus weichem Material geformt und erinnert irgendwie über Ronchamp. Er eine Rückkehr zu den einem Bericht über diesen ') Aus Bills Artikel sei noch eine Stelle angeführt, die mutatis mutandis für unsere offizielle Schriftstellerei über katholische Kirchen gilt: „Mit der zunehmenden Zahl der Architekten kam der Streit der Meinungen, und an Stelle der Vernunft kamen die These und das Manifest. Ein jeder begann eigene Thesen und eigene Manifeste zu machen. Dann kam die Zeit der Kongresse. Zuerst waren es Kongresse, die das Neue wollten. Dann gab es Gegen kongresse, dann solche, die das Ganze und solche, die das Schöne wollten, dann solche, auf denen man einfach reden wollte. Es wurde das Reden als Bestandteil der Architektur erfunden" (resp. das Schreiben darüber). an die an einen Felsen angebaute Wildkirchllkapelle im Appenzelleiiand. Es handelt sich hier um ein extremes Ausweichen vor allem Technischen in das reine Gegenteil des nahezu Ungeformten, des Felsen- und Höhlenmäßigen. Corbusier greift bewußt hinter alles Historische zurück und versucht, ins Elementare, ja Prähisto rische zurückzutauche n." Zur peinlichen Überraschung unserer Hymnoden in „NZN", „Orientierung", „Werk" usw. hat an einer Zürcher Studientagung für katholische Kir chenkunst Prof. Dr. Leonhard Küppers aus Düsseldorf (ein wirklich erfahrener — nicht ange maßter — Fachmann) den Bau von Ronchamp als Kirche restlos abgelehnt. Ich weiß von einem führenden, nichtkatholischen Schweizer Ar chitekten und seiner Frau, die beim Besuch von Ronchamp entsetzt ausriefen: „Das ist nicht kirch lich, sondern dämonisch!" Ich verzichte darauf, hier negative Urteile ausländischer Zeitschriften anzu führen'-). RONCHAMP UND DIE ZEITGENÖSSISCHE ARCHITEKTUR Welches ist die wirkliche Stellung von Ronchamp in der zeitgenössischen Architektur? Zur Beantwor tung muß man etwas ausholen. Goethe definiert in Palermo das Urelement der Architektur unver gleichlich klar als „das Gefühl des Perpendikels und der Wasserwaage, das uns eigentlich zu Men schen macht und das der Grund aller Eurhythmie ist". Dieses Gefühl für Senkrecht und Waagrecht, das man auch als Gefühl der sta tischen Sicherheit, als Balancegefühl des Menschen bezeichnen kann, verlangt von jedem Raum Beru higung, Sicherheit. Eine schiefe 'Wand, ein krummes Gewölbe bedrücken uns. Über die Mode der schräg nach einer Längsseite ansteigenden Decken in Schulzimmern (gelegentlich sogar in Kirchen und Kapellen) äußerte sich in der oben genannten Architekturnummer der „NZZ" ein erfahrener Schularzt warnend; solche Räume führen durch ihre Asymmetrie und durch den einseitigen hohen Licht einfall zu Verkrümmungen der Kinderkörper . . . Dieses Verlangen nach Sicherheit wird primär be ruhigt durch Klarheit, Symmetrie, Achsialität, regelmäßige Lichtführung usw. In fast allen Archi tekturperioden führt dieses anthropomorphe Ver langen dazu, daß man die Knochen und Muskeln des Baues sehen will, in der Form von Architektur symbolen (Säulen, Kapitellen, Basen, gotischen Diensten, Konsolen usw.). Diesem „organischen" Denken, das am Anfang und in der klassischen Periode eines jeden Stiles herrscht, steht polar das rein raummäliige Denken der Spätzeiten gegenüber, das auf all diese funktio neilen Unterstreichungen und Sichtbarmachungen verzichtet, da sie tatsächlich die freie Raumgestal tung hemmen können. Es ist dies der polare Gegen satz zwischen dem griechischen Tempel und der Hagia Sophia, zwischen denen als teils organischem, -) Uber Ronchamp kann man nur reden, wenn man es gesehen hat. Wer die Fahrt dorthin nicht machen kann, findet nun endlich zahlreiche ausgezeichnete Photos im letzten Dezemberheft des „Werk". Es ist dringend zu wün schen, daß die Leser meiner Zeilen diese Abbildungen vor sich haben, um das Gesagte kontrollieren zu können. 22

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