Ganz anderer Art wiederum sind die großen byzan tinischen Prozessionen in Ravenna, diese Kunst der Vertikalen, wo man spürt, wie der Handwerker dem ursprünglichen Glauben treu geblieben ist (dieser ist und sollte der unsrige sein!). Später, bei den irischen Bandgeflechten wird die Kunst tatsädilich nicht nachahmend. Die Kunst der ineinander und nicht zu trennenden Formen steht in großem Un terschied zur Arabeske (geometrische Kunst). Ihre Steinkreuze bilden in ihrer massiven und unter setzten Form die Anfänge der romanischen Kunst, die die irischen Mönche im Westen verbreitet haben. Diese Kunst eignete sich vorzüglich zur Einkehr, sie ist vor allem eine Kunst des Ausma lens, der Bildhauerei und der Architektur. Wenn der Übergang von der Romanik zur Gotik auf dem Gebiet der Bildhauerei und Architektur rein und klar hervortritt, ist er bei der Malerei be deutend weniger eindeutig. Dank den an den Wänden angebrachten Öffnungen entwickelt sich die Glasmalerei zu ihrem Höhepunkt. Es ist die Zeit des Polyptikons. Bis zu diesem Moment darf man wohl behaup ten, daß das christliche Denken und Glaubensbe kenntnis des Künstlers die Materie, die Form und die Haltung des sakralen Kunstwerkes entschei dend beeinflußt hat. Seit Ravenna erhält die Kunstauffassung immer mehr geistigen Aspekt. Die Dinge sind nun gemäß ihrer moralischen Be deutung geordnet und so schlägt die Stunde der Renaissance. Das „physische" Weltall beginnt seine Hauptrolle zu spielen. Es zeichnet sich eine Berauschung beim „Homo sapiens" ab, der zum Humanisten wird. Das ist der Moment, wo Vinci eine Art von Inventar anlegt und damit Erfolg hat, ein materielles und vernunftmäßiges Inventar gemäß der menschlichen Vernunft. Nachahmung der heidnischen Antike mit der .Schönheit des menschlichen Körpers gemäß griechischem Vorbild wird zur Tagesordnung erhoben. Es folgt eine Blütezeit von Kunstwerken, die in der rein künst lerischen Darstellung allerdings vollendeter sind als in ihrer geistigen Haltung. Die ursprüngliche christliche Idee schwächt sich allmählich ab, die geistige Andacht macht mehr und mehr einer De monstration der übermütigen Technik Platz, wo der Glaube sich je länger je weniger behaupten kann. Dann folgt die Zeit des Barock mit ihren gezier ten Verdrehungen, aufgelöst in Bewegung. Gleich zeitig gehen alle Wege auf über die Meere, der Triumph des Geistes eines St. Ignaz und St. Frangois Xavier, die dem Weltall eine Eroberungslust vermitteln, wo der Wille zu mateifeller Kraftent faltung der Forderung nach religiöser Bekehrung weit überlegen ist. Die Romantik wird diesen Zu stand verlängern in Form eines etwas weichli chen wiedererweckten Mittelalters, das sich ganz gut zusammenreimt mit dem „Halb-Christentum" eines Chateaubriand. Aus all dem geht hervor, daß die christliche Kunst in der Renaissance einen neuen Weg einschlägt, der bis zum Impres sionismus dauert. Der „Quietismus hatte die Altäre und Beträume erobert. Es brauchte nicht weniger als ein dramatisches Eperiment, um sie wieder zu erwecken, was einem Manne den Ver stand und das Leben kostete. DIE REVOLUTION VON VAN GOGH Van Gogh — das vergißt man immer wieder — war in erster Linie ein tief rehgiöser Mensch. Aber er war es nicht auf die übliche mondäne oder intellektuelle Art, wie die Künstler der Re naissance. Er war es zu tiefst, geistig und körper lich. Die Reinheit der Absicht war für ihn Berufung. Er war kompromißlos und fühlte sich überall und für alles verantwortlich. Er versuchte, mit Gott direkt, ohne Vermittlurug, ins Gespräch zu kommen. Auch seine Betreuung der Arbeiter von Borinage war so christlich im wahrsten Sinne, daß er des wegen getadelt wurde. Er lebte zu sehr das Leben seiner Kohlarbeiter. Als Pfarrer nahm er die For derungen der Arbeiter zu sehr zu Herzen. Schließ lich abgestoßen und enttäuscht, vertauschte er seinen Beruf als Pfarrer mit dem des Malers. Aber auch hier duldete er das Unechte der Kunst nicht, das bewirkt, daß sowohl der Geist als auch das Talent tut was es will, beim Würdigen als auch beim Unwürdigen. Zuerst befaßte er sich mit der Vignette. Als er aber in Paris zur Zeit des Impressionismus begriff, daß sich die Malerei mit eigenen Mitteln verteidigen muß, versuchte er im mer wieder, das Schwierige zu wählen, indem er niclit auf erworbener Anerkennung ausruhte, son dern sich immer wieder zu neuer Anstrengung auf raffte, Auf diese Weise kam er zu einem Ausdruck ohne „Rhetorik" und ohne Glanz. Dieser Ethik folgend, dazu die innere Berufung spührend, das hieß die Ordnung der Dinge auf den Kopf stellen. Das hieß moralisch handeln in der Kunst, eine wahre Revolution, vergleichbar mit jener, die Cezanne poetisch erfüllte. Van Gogh er laubte das Spiel mit dem Auge des Beschauers nicht mehr. Er ist der erste, der die Kunst der Ästethik der Renaissance ganz verwirft, jene Ästethik der Kapazität im Sinne einer Schöpfung. Beispiel: Van Gogh erlaubte nicht, daß man irgend etwas darstellte, das den Schmerz ausdrückte, ohne daß der Künstler nicht selbst körperlich und geistig Schmerzen litt. Er konnte schließlich Ein gebung und Erkenntnis nicht mehr voneinander unterscheiden, die seiner Meinung nach untrennbar miteinander vereint sein sollten. So träumte er von einer Kunst, die, „als Speise für die Gefangenen in den Kerkern dienen sollte". Nun werden Sie sagen, das wirft wiederum die Frage auf über die Beziehungen zwischen der Kunst und der Moral, diesen zwei Unvereinbaren. Ja, aber haben wir denn das Problem richtig gestellt in unserer Betrachtung über die Ästhetik vor dem Erscheinen dieses Mannes, der die ganze bisherige Ordnung über den Haufen wirft? — Wir haben also gesagt, daß die Kunst sich nicht mit Vernunft machen läßt, daß sie nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat, daß man mit reinen Absichten unter Um ständen auf Abwege geraten kann. Selbstverständ lich braucht es Talent, wenigstens die Fähigkeit, sich in einer unverständlichen Sprache auszudrükken. Aber hatte denn van Gogh so viel Talent? Seine Ausdrucksfähigkeit war sie denn so gewaltig? Keineswegs. Bei ihm ist das wunderbare geschehen, daß die Kunst ihre moralische Ausdruckskraft zu rückgewonnen hat, sie hat aufgehört, ein Spiel zu sein, eine Vorführung, eine Virtuosität, sie ist zum Ausdrucksmittel des ganzen künstlerischen Men schen geworden ohne irgendwelche Einschränkung. Van Go;gh ist also der Wegbereiter, der dem christlichen Künstler die Pforte aus der überlie ferten Einstellung heraus zu neuer Haltung und Auffassung in unserer heutigen Zeit weist. Seit dem Erscheinen dieses Mannes, der seine Erkenntnisse durch übermenschliche Leiden bezahlt und er worben hatte, finden wir uns wieder vor dem Wun der der „absoluten" Kunst, der Kunst, die den Ausdruck des Menschen dai'stellt, welcher fast an die religiöse Berufung heranreicht. Schließlich, wir 23
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2