Christliche Kunstblätter, 93. Jg., 1955, Heft 3

dem Naturhaft-Geschöpflichen wieder ein erstes Tor geöffnet. — Wenn nun der Weg ins Gegen ständliche ausgeschlossen sein sollte,, weil er einem Rückfall ins Illusionistische gleichgekom men wäre, so blieb nur der Weg in die Tiefe, in jene Zone des Daseins, wo der Mensch mit sei nem verborgensten Persongeschick dem Ele menthaften der Wirklichkeit zugeordnet ist. — Um hier gleich jeder Möglichkeit des Mißver ständnisses vorzubeugen,- muß gesagt werden: Gang in die Tiefe meint nicht Abstieg in die seelische Unterwelt. Die Unterwerfung unter das Diktat des Unbewußten, die sogenannte automatische Schreibweise, wie sie in seiner mittleren Epoche etwa Baumeister geübt hat, ist eine vom Surrealismus suggerierte Abweichung von dem eigentlichen geschichtlichen Auftrag. Denn der so entstehende Traum-Raum kann ohne illusionistische Anspielungen sich nicht auf der Bildfläche entfalten. — Die Abstrakten der jüngeren Generation, ein Ernst Nay, Hans Här tung, Fritz Winter, Josef Fassbender, haben darum auch folgerichtig den Stoß weitergetra gen. Das Bildzeichen (womit übrigens nicht nur das graphische Element im engeren Sinne ge meint ist — es kann ebenso in dem Bezug besonderer Farbwerte, aus dem Gegeneinander verschieden behandelter Flächen aufspringen) erschließt bei diesen Malern jenen wahren Raum, in dem das Tiefeigene der hüllenlosen Selbstbegegnung in der Erfahrung des persön lichen Geschicks die Weite einer menschlichen Grunderfahrung gewinnt. Diese Tiefe liegt hin ter dem Bereich der Sinnlichkeit, der Sinnes wahrnehmung, hinter dem des Sentiments in der Zone des Herzens. Herz, so verstanden, ist keine romantische Vokabel, sondern der Grund, in dem jeder seine einmalig ewige Bestimmung übernimmt und durchträgt, zugleich aber in dieser Tiefe die umgreifendste Weite der Be rührung mit allem Seienden und dem nur hier sich auftuenden Sein selber findet. Pere Couturier, der hochherzige geistliche Freund so vieler großer Künstler, hat einmal im Blick auf das Werk von Matisse in der Kapelle von Vence auf diesen Grund angespielt, wenn er von Ma tisse sagt: „. . . die Aufrichtigkeit eines einsamen Menschen erreicht, wenn sie tief genug in ihn selbst herausdringt, dort für alle Menschen einen universalen Grund der Wahrheit, zu dem nichts anderes je Zugang hat." (Art sacre, 1951, Juli-August [11—12], S. 16.) Aufrichtigkeit, ohne die große Kunst nicht sein kann, ist Erschlossenheit für diesen Grund und der genaue Gehorsam an die göttliche Füh rung, die nur in dieser Tiefe erfahren wird. Pi're Regamey, der andere nicht minder hoch herzige Vorkämpfer einer erneuerten kirchlichen Kunst, zitiert in seinem Werk: „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert", das mehr noch als ein Dokument des weitesten Verstehens für alle Probleme der modernen kirchlichen Kunst ein Zeugnis darstellt für eine einzigartige Form der Künstlerseelsorge und -seelenführung, einen Ausspruch von Matisse, der zeigt, was es mit dieser Aufrichtigkeit des Künstlers auf sich hat. Im Jänner 1948 sagte (Matisse) einem jungen Ordensmann was er später oft wiederholt hat: „Gott führt mir die Hand, ich bin für das, was ich mache, nicht verantwortlich." Worauf Pater Rayssiguier erwiderte: „Warum versuchen Sie dann nicht ein religiöses Thema zu malen, z. B. eine Mutter Gottes? Gott würde eingreifen und Sie etwas höchst Bedeutendes schaffen lassen." — .„Nein", antwortete Matisse, „solche Gegen stände fühle ich nicht. Ich würde sie allzu will kürlich behandeln, i c h würde mich ihnen auf drängen. Wenn ich etwas Profanes male, führt mich Gott, so reicht das Werk über mich hinaus. Wenn ich die allerseligste Jungfrau machen wollte, würde ich es erzwingen wollen. Gott würde mich dann mir selbst überlassen." Und Regamey fügt hinzu: „Drei Monate später wurde er vom inneren Auftrag genötigt, eine ganze Kapelle zu machen" (a.a.O., S. 215/16). Nicht immer wird dem zeitgenössischen Künst ler in der Tiefe, aus der heraus allein er schöp ferisch wird, der Führungswille Gottes so ver nehmlich sein, wie es hier Matisse geschah. In diesem Bereich kann nichts erzwungen, nichts antizipiert, nichts vorgegeben werden; hier gilt nur, was das Gewicht des Seins hat, und die Erfahrung des Nicht-seins, die ein Künstler in solcher Tiefe macht, kann schwerer wiegen und dementsprechend bildnerisch fruchtbarer wer den als das Aufgebot einer ganzen christlichen Theologie und Kosmologie in der Sphäre des bloßen Sentiments. Jedenfalls wird kein kirch liches Kunstwerk jene letzte zwingende Gewalt der Selbstbezeugung haben, wenn es nicht aus der Begegnung in dieser Tiefe hervorgegangen ist. Diese Spannung zur Tiefe ist am Zeichen im Bilde ablesbar. Das Zeichen zeigt an ihm selber, ob es als Zeichen für anderes auf der Ebene der rationalen Verständigung gemeint war oder ob es Arabeske ist, in der ein emotionaler Vorgang ausläuft und erstarrt, also noch in die Zone des Sentiments gehört, ob in ihm der vergewal tigende Zwang der magischen Identifikation waltet oder aber ob in ihm der sich selbstent hüllende Grund des personalen Geschicks her vortritt, wo dann Zeichen und Bezeichnetes auf einer höheren Ebene als der der magischen Identifikation, auf der Ebene des reinen Seins zusammenfallen. Hier in diesem letzten, äußer101

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