Christliche Kunstblätter, 93. Jg., 1955, Heft 3

geschichtlichen Konstellationen der Ort gewesen ist, wo entscheidende Vorgänge des geheimeren geschichtlichen Führungssinns zum Austrag ge kommen sind und, wie man im Blick auf die Situation der Kunst heute annehmen muß, auch weiterhin zum Austrag kommen werden. Ich brauche nur die Namen Kandinsky, Piet Mondrian und mit ihm die Bewegung „de Stijl", die Leute des Bauhauses, die auch wenn sie wie Klee und Schlemmer der abstrakten Kunst nicht selbst angehören, ihr aber wesentlich zu geordnet sind, Männer wie Baumeister und Vordemberge-Gildewart und schließlich die Ab strakten des Nachkriegs wie Nay, Winter, Mei stermann, Faßbender zu nennen, um damit schon anzugeben, welche Verknotungen des Zeitgeschicks, wie unauffällig auch immer, sich hier vollzogen haben. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, den geschichtlichen Sinn dieser Be wegung herauszustellen, die in drei mächtigen Schüben von Mal zu Mal tiefer gelagerte Schich ten unseres Gestaltsinnes erschütterte. Wir haben es mit der Situation der abstrakten Kunst auf der gegenwärtigen Stufe ihrer Ausbildung zu tun, soweit sie eine Herausforderung an die kirchliche Kunst und den christlichen Künstler unserer Tage darstellt. Ich bin mir im übrigen bewußt, daß damit ein geschichtliches Phänomen mit einiger Ge waltsamkeit aus seinem Kontext herausgelöst wird, daß neben dieser Bewegung, in einem keineswegs belanglosen Verhältnis der Anzie hung und Abstoßung die gegenständliche Kunst zum Feld der gleichen Auseinandersetzung ge worden ist. Ja, ein Vergleich der schöpferischen Kräfte, die sich hier wie drüben entfalten,, könnte nahelegen, die größeren schöpferischen Potenzen im Bereich der gegenständlichen Kunst anzusetzen. Das gilt zumindest bis ins letzte Jahrzehnt hinein und scheint sich erst jetzt, zunächst noch unmerklich, zu verschieben. Da bei ergibt sich das Seltsame und höchst Beach tenswerte, daß selbst die aus den elementarsten schöpferischen Voraussetzungen notwendig ent wickelten Gestaltungen der großen gegenständ lichen Künstler auf die eine oder andere Weise zu den Formerrungenschaften der abstrakten Kunst in Beziehung treten und sich daran modifizieren — ein Beweis mehr, welche ge schichtlich zwingende Kraft dieser Bewegung innewohnt. Weder Georges Braque noch Juan Gris, weder Max Ernst noch Miro, weder Henri Laurens noch Marini hätten auf bestimmten Stufen ihrer Entwicklung letzte Formentschei dungen fällen können, ohne das Beispiel der abstrakten Kunst, und es fragt sich, ob selbst solche Künstler, die wie Max Beckmann, Modi gliani oder Rouault in betontem Abstand zu den Tendenzen der abstrakten Kunst standen, nicht dennoch von diesem Gegensatz her be stimmt und zu den härtesten Folgerungen ihrer eigenen Formenlogik getrieben wurden. Was in dem Abenteuer der abstrakten Kunst vor sich gegangen ist, läßt sich nicht anders be zeichnen denn als Epiphanie der Wirklichkeit. Die radikale Askese im Gebrauch der Darstel lungsmittel, die Reduktion auf die Primär elemente, die Ausgrenzung aller illusionistischen Faktoren, alles dient dem Willen, jene Gegen wart zu umstellen, für die man keinen Namen hat, von der man aber weiß, aus der unerbitt lichen Logik des Ausgrenzens weiß, daß in ihr das dichteste Zeitwesen waltet. Diese Gegenwart ist selbst, wo sie wie bei Kandinsky als das „reine Wesen" gemeint war, zeithaft-geschicht lich. Auch die unbedingte Positivität und Helle des geometrischen Stils, die radikal praktizierte „Rechtwinkligkeit an Leib und Seele" in den Kompositionen Piet Mondrians kann nicht dar über hinwegtäuschen, daß diese Formen an der Schmerzstruktur unserer zweifach gefallenen modernen Welt ausgespannt sind. Der Protest des Positiven wird in den abstrakten Bildwer ken der Nachkriegszeit als das unangemessene Pathos der Sachlichkeit preisgegeben und nun mehr in einer männlich strengen Bildzeichen sprache gesagt, was zu sagen ist. Kann nun die Kirche darauf verzichten, die in dieser seit Jahrhunderten wohl schärfsten Formauseinandersetzung errungene Sprache der jüngsten abstrakten Kunst in ihren Dienst zu nehmen? Die Frage, so gestellt, erzeugt einen wahren Strudel von Unbestimmtheiten, Miß verständnissen, Widersprüchen. Man spricht hier wie im gottesdienstlichen Raum von Gegen wart. Aber die Gegenwart, die in der Kirche angebetet wird, ist nicht namenlos, sie hat einen hohen, den allerhöchsten Namen, sie ist auch nicht bildlos, sie hat ein Antlitz, und welches Antlitz! — Sie ist zeithaft ewig und ereignet sich in der ärmsten, der leersten Gestalt, der weißen Scheibe der Hostie. Wer glaubt noch, daß diese Hostie bluten kann? Das Blut der Geschichte scheint aus ihr ausgeronnen zu sein. — Wie aber läßt sich Gegenwart mit Gegenwart zur Deckung bringen, wenn das Unaussprech liche nicht Wort wird und das Wort nicht im Aussprechen seine Unaussprechlichkeit erweist? Indem diese Frage laut wird, werden wir mit der anderen Tatsache konfrontiert, die erfaßt werden muß, wenn die Situation voll bestimmt sein soll, aus der allein wir eine Antwort auf die Frage versuchen dürfen, ob der abstrakten Kunst im kirchlichen Raum Platz gewährt wer den kann: Die Kirche ist der Ort, wo sich das Gottesvolk versammelt zur eucharistischen 99

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