Christliche Kunstblätter, 93. Jg., 1955, Heft 1

liehe Verderbtlieit der mensch lichen Natur gelehrt hat. Barock aber wollte gerade diese Einheit als christliche Wirklichkeit betonen. Das ist sein großes Verdienst, und man sollte dieses Verdienst nicht einfach deshalb schmälern wollen, weil ehrliche Bereitschaft auf viele Weise auch die Grenze überschritten, hat. 10. Klassizismus Wenn man in Venedig am Dogenpalast steht und über den Canale Grande nach rechts schaut, gewahrt man eine mächtige Barockkirche, Santa Maria della Salute, 1630 von Longhena erbaut, mächtig in ihrer Kuppel und in den schneckenartigen Voluten. Schaut man geradeaus über den Kanal, erblickt man auf einer großen La gune die Kirche San Giorgio Maggiore, Groß Sankt Georg also, ein Bau 1560 von Palladio begonnen und 1610 von Scamozzi beendet. Welcher Gegensatz bei der Archi tektur dieser beiden Kirchen, die zeitlich nur wenig auseinanderliegen! Santa Maria della Salute ist voll schwellender Bewe gung und San Giorgio Maggiore verrät einen deutlichen Anschluß an die römische Antike, vor allen Dingen in der strengen Gliederung, in der Sparsamkeit des Pla stischen, in der nüchternen Geradlinigkeit, in der auffallenden Gesetzmäßigkeit der Verhältnisse und in der monumentalen Ruhe. Was hier von dem berühmten italienischen Baumeister Palladio geschaf fen wurde, was sich später auch bei der Fassade des Louvre von Perrault in Paris, am Amsterdamer Rathaus von van Kam pen und vor allen Dingen an englischen Bauten findet, hat man seit je „Klassizis mus" genannt. Aber er ist dennoch nicht das, was man für gewöhnlich mit Klassizismus bezeichnet. Der ist vielmehr ein europäischer Stil, der in der Kunst vor herrschend war in der Zeit von 1770 bis etwa 1830. Zum Unterschied vom Klassi zismus des Palladio wird er auch „Neu klassizismus" genannt. Von ihm sprechen wir an dieser Stelle. Um zu verstehen, was Klassizismus in der Kunst ist, stellt man am besten einige Kunstwerke gegenüber, in der Malerei z. B. irgend ein Bild von dem Franzosen Watteau, die „Einschiffung nach der Insel Cythera" etwa, und den „Schwur der Horatier" von Jacques Louis David, in der Plastik irgend eine Madonnenfigur von -Anton Feuchtmayer und eine Plastik von Gottfried Schadow, die preußischen Prin zessinnen oder seine Statue des Hans Joa chim von Ziethen zum Beispiel, in der Architektur endlich eine Kirche von Bal thasar Neumann, Vierzehnheiligen als Bei- ■spiel oder die Stephanskirche in Karlsruhe von Weinbrenner oder die Christuskirche am Marktplatz dort oder die Hedwig basilika in Berlin. Es ist danach nicht schwer, sich über das Wesen des Klassizis mus klar zu werden. Zunächst; wie der Manierismus eine Gegenbewegung gegen die Renaissance war, wie der Barock eine Gegenbewegung gegen den Manierismus war, gegen seine einseitige Geistbetonung, so ist der Klassizismus eine unmißver ständliche Gegenströmung gegen den Ba rock, vor allem gegen seine Spätform, das Rokoko, das sich bis ins völlig unernst Spielerische, vor allem im rein weltlichen Bereich, ausgedehnt hatte. Während man aber bei aller Betonung des Gegenspieleri schen bei den voraufgegangenen Spielarten immer noch auch bleibendes Verwandtes aufweisen kann, zum.JIeispiel zwischen Ba rock und Manierismus, handelt es sich bei Klassizismus um eine Gegenform stärkster Art, wie sie bis dahin in der gesamt europäischen Kunst noch nicht vorgekom men war. Nun galt nur ein einziger Grund satz, für die künstlerisch-formale Gestal tung, und zwar innerhalb sämtlicher Be reiche, der Architektur, der Bildhauerei, der Malerei, ja selbst der Musik, und der hieß: „edle Einfalt und stille G r ö ß e". Vom Künstler selber aber wurden gefor dert : „große Gedanken und ein reines LI e r z". Beides aber glaubte man erst da zu finden, wo aller Schwulst einer voraufgegangenen Kunst verschwun den war. So griff man auf die Antike zu rück und suchte nach Formen bis zur kind lichsten Vereinfachung. Dabei galt für die Malerei, daß jede Bewegung von der Form her zu erreichen wäre, nicht aber — wie beim Barock — aus der Farbe. Vorherr schend blieb deshalb immer auch die klare Zeichnung. Wo aber Farbe verwertet wurde, wirkte sie kühl und verhalten. Unter diesem Gesichtspunkt ist in Frank reich Jacques Louis Davids „Horatierschwur" nicht nur vom Thema her wich tig, sondern auch von der Farbe her; und 6

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2