Kunst und Trefflichkeit, die er zu besitzen glaubte, schien ihm sehr gering. Deshalb beschloß er von dannen zu gehen . . Er kehrt ins Kloster San Marco zurück. Die Zellenwände schützen ihn vor dem zeh renden, alles überwältigenden Kunststrom, der sich über ganz Italien mit unerhörter Gewalt ergießt, und Gestalten emporträgt, deren Glanz in Jahrhunderten nicht er löschen wird. Sein Werk gehört nun allein der religiösen Welt an. Er malt, wie die Steinmetzen der gotischen Dome, die byzantinischen Meister arbeiteten: der Wettstreit der großen Kunst verklingt in der Ferne. Sein Schaffen gehört allein Christus. II. Vierhundert Jahre später, um die Wende des XIX. Jahrhunderts, vollzieht sich aber mals solch eine tragische und heroische Abschwenkung zur Heiligung hin. Der al ternde Tolstoi ist es, der um eine neue Formel seiner Kunst ringt und deshalb sein gesamtes früheres ruhmbeladenes Werk verleugnen möchte. Einundeinhalb Jahre währt dieser sehr schmerzliche und krisen reiche Übergang. Während langer Morgen spaziergänge in Jasnaja Poljana grübelt er über die Frage nach, deren Sinn ihm manchmal blitzhaft klar einleuchtet, bei der Eintragung in das Tagebuch sich aber wie der verwirrt, so daß er oft verärgert an merkt, es sei alles Unsinn und unbrauchbar. Kur schwer erschließt sich ihm durch Re flexion und inneres Experiment der Weg, der von der Kunst zur Heiligung führt. Als erste Frucht dieser Altersgedanken ergibt sich ihm endlich ein Buch. Er nennt es „Was ist Kunst?". Gelangt man beim Studium dieses Buches schließlich zu dem „Koordinatenkreuz", worauf alles bezogen ist, so erstaunt man darüber, wie sich Tol stois Ergebnisse decken mit den Impulsen Savonarolas, unter deren Einfluß der Künstler Baccio della Porta gehandelt hat. Der krasse Gegensatz von Armut, Hunger, Elend, darin der Graf das russische Volk befangen sieht, und dem parasitären Wohl leben einer unbedenklichen Oberklasse gibt den eigentlichen Anstoß, alles, was mit Kunst zusammenhängt, einer neuen Prü fung zu unterziehen. Tolstoi sieht in denen, die Kunst ausüben, die Romane und Stücke schreiben, und denen, die diese Bücher lesen und in Theatern zuschauen, Müßiggänger, Genießer, überflüssige Menschen. Daraus ergibt sich für ihn eine Verantwortung, der sich sein eigenes Schaffen unterzuordnen hat. „Es gibt viele Privilegien, aber das empörendste, das schändlichste aller Privi legien ist das Privilegium der Kunst, wie man dasselbe in unserer Zeit auffaßt", sagt er einmal zu einem Besucher. „Früher war es nicht so. Die mittelalterliche Kunst, die Skulptur der Portale und Kapitäle, die Kunst der Glaser war nicht für Gelehrte und Reiche, sondern für das Volk bestimmt. Das war gesetzliche Kunst, und sie war sogar gut. Aber die Päpste und die italieni schen Könige der Renaissance haben sich mit einem kleinen Hofe von Künstlern um geben. Sie banden sie an ihre Persönlich keit, bestimmten sie für ihr Vergnügen und fütterten sie. Diese Künstler der Renais sance sind die wahren Väter der gegenwär tigen Künstler; sie waren Parasiten." Nichts anderes behauptet hier der rus sische Dichter als vierhundert Jahre früher der Florentiner Mönch. Auch dieser haßt Kunst nur deshalb so fanatisch, weil sie den Menschen zur Selbstvergottung verführt. Der narzistische Zug im Künstler und in der Kunst, die A/^erliebtheit in die eigene Person und die Gegenstände, wie sie diese selbstgeschätzte Person sieht, der Subjek tivismus, dahin auszuarten Kunst immer tendiert, und der sich dann gesellschaftlich in einer unberechtigten Sonderstellung ge genüber dem arbeitenden Volk äußert — sind die Momente, die beide Künstler schließlich die Heiligung suchen lassen. Wenn Kunst dann überhaupt noch bestehen kann, dann nur in der Unterordnung unter die Gesetze der Fleiligung. Von hier aus leitet sich Tolstois Bilder sturm wie auch der aller folgenden Epochen ab. Er richtet sich gegen das Farben- und Formreich der „Flelena", der geschmückten und in sich selbst verliebten Dinglichkeit. Es ist merkwürdig, wie nahe Tolstois Einsicht der Idee Savonarolas und Baccios kommt. ,,Früher befürchtete man, es könn ten unter Kunsterzeugnisse Gegenstände geraten, welche die Menschen verderben, und man verbot jede Kunst", schreibt er. „Jetzt aber ist man bloß darum besorgt, daß man nicht irgend eines von der Kunst ge währten Genusses verlustig gehe und pro tegiert jede Kunst. Und ich glaube, daß der letzte Irrtum viel größer ist als der erste
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